Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Ein Jahr Corona

Hätte uns jemand Anfang März 2020 vorhergesagt, wie sehr sich unser aller Leben binnen einen Jahres verändern würde – wir hätten ihn wohl für verrückt erklärt. Und doch – ein Jahr nach dem hiesigen Ausbruch von Corona sind viele zuvor unvorstellbare Dinge längst Realität geworden. Ein Rückblick auf ein Jahr Ausnahmezustand.

 

Doch zunächst lohnt ein Blick zurück an den Anfang, das heißt ganz an den Anfang, zurück in den Januar 2020: Im „Heute Journal“ rügt Marietta Slomka noch die, die angesichts der zunehmenden Corona-Fälle in Deutschland jetzt „meinen, Maske zu tragen müssen.“ Masken seien den Ärzten vorbehalten und brächten im Alltag schlicht nichts, so Slomka. Ihr Kollege Oliver Welke von der „heute-show“ macht sich währenddessen lustig über die Verschwörungstheoretiker, die meinen, dass Corona irgendwie gefährlich werden könnte. Und Gesundheitsminister Spahn äußert sich mehrfach öffentlich über Corona und sagt unter anderem: „Corona ist milder als eine Grippe“. Vor dem Gesundheitsausschuss nennt er die Vorstellung, dass sich Corona zur einer Pandemie ausbreiten könnte, „eine zurzeit irreale Vorstellung.“.
So verstreicht der Januar in Deutschland. Im Februar feiern die Menschen noch Karneval und Fasching. Großveranstaltungen sollten je nach Lage eingeschätzt werden, so Gesundheitsminister Spahn. Er wolle aber nicht „belehrend aus Berlin kommen.“

Und noch am 14. März schreibt das Gesundheitsministerium, dass ein gesamter Lockdown ins Reich der Verschwörungstheorie gehöre. Einen Tag später dann – gesamter Lockdown des Landes.

 

 

Frühe, ignorierte Warnungen aus China

Wer allerdings seit Januar 2020 nach China geschaut hatte, der wusste: Da kommt etwas auf uns zu – und es sieht nicht gut aus.
Denn noch am letzten Tag des Jahres 2019 schlug das internationale Frühwarnsystem ProMED, das speziell für neuartige Krankheiten und Pandemien eingerichtet wurde, Alarm: Eine neue, unbekannte Lungenentzündung sei in China aufgetreten.

Parallel macht in den sozialen Netzwerken weltweit die Warnung des Arztes Li Wenliang aus Wuhan die Runde, dass sich ein „Sars-ähnlicher Virus“ rasant in Wuhan ausbreite. Von den chinesischen Behörden wird Li Wenliang zunächst als Verschwörungstheoretiker diskreditiert. Erst nachdem der junge Arzt selbst an dem Virus stirbt, wird er von denselben chinesischen Behörden zum Märtyrer erhoben. Li Wenliang stirbt an der neuen Lungenkrankheit Corona schon im Februar 2020.

Zur selben Zeit, auch schon im Februar 2020, äußert sich einer der bekanntesten Epidemiologen der Welt – der Harvardprofessor Marc Lipsitch – zum neuen Corona-Virus. Er meint, dass sich 40-70% der Weltbevölkerung mit diesem neuartigen Virus anstecken würden und geht gleichzeitig von einer Sterberate aus, die 10- bis 20-mal höher sei als eine normale Grippe.

Die renommierte Zeitschrift „The Atlantic“ schreibt auch im Februar 2020: „Lipsitch ist bei weitem nicht der Einzige, der glaubt, dass sich das Virus weiter ausbreiten wird.“
Glücklicherweise irren sich der renommierte Harvardwissenschaftler Marc Lipsitch und seine Kollegen massiv bei seiner Einschätzung der Todesrate.

 

Chinesisches Straßenplakat, das den lange ignorierten und mittlerweile berühmten Arzt Li Wenliangportraitiert.
Foto: PeterVod via Wikimeda Commons

 

Ein Jahr Ausnahmezustand

Ein Jahr Corona. Ein Jahr Ausnahmezustand. Ein Jahr widersprüchliche Einschätzungen. Ein Jahr leere Gaststätten. Ein Jahr Wirtschaftskrise. Ein Jahr Angst. Ein Jahr Bilder von qualvoll sterbenden Menschen.
Ein Jahr – neue Gesichter: Multimilliardär und Computerexperte Bill Gates – der schon vor Jahren vor einer solchen Pandemie gewarnt hatte – wird schnell wichtiger Player im Kampf gegen das Virus. Und der Virologe Christian Drosten wird in Deutschland eines der bekanntesten Gesichter 2020.

 

 

Ein Jahr Widerspruch

Und doch gibt es auch einige, die die prominenten Einschätzungen des Virologen Christian Drosten zum Beispiel – nicht teilen. Einer der Drosten inhaltlich widerspricht, ist Anthony Fauci, der Chef-Virologe der USA. In einem Experten-Gespräch sagt der, dass viele der eingesetzten PCR-Tests zu sensibel seien und zu falschen Positiv-Tests führten.
Kern des wissenschaftlichen Disputs, für den Christian Drosten und Anthony Fauci nur stellvertretend sind, ist der PCR-Test an sich, der je nach Verständnis der Wissenschaftler einmal mehr oder weniger sensibel misst. Deshalb schreibt z. B. auch die „New York Times“ in einem Artikel von August 2020: „Die üblichen Tests können schlichtweg zu empfindlich sein“. Und auch die „Tagesschau“ meldet zu demselben Thema: „Der Epidemiologe Michael Mina von der Harvard Universität plädiert deshalb dafür, den Ct-Grenzwert auf 30 festzulegen.“.
Auch das ist Corona: Ein Jahr der Widersprüchlichkeiten, Improvisationen und Revidierungen.

 

 

Wissenschaft im Eifer des Gefechts

Einer der prominentesten wissenschaftlichen Irrtümer der letzten 12 Monate unterläuft ausgerechnet der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“. Für viele gilt „The Lancet“, eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für Medizin, als Goldstandard in der Wissenschaft.

Aber auch dem „Lancet“ unterläuft im Eifer des Gefechts ein Fehler, der in normalen Zeiten eigentlich nie passiert: Die Fachzeitschrift muss eine bereits veröffentlichte, große, wissenschaftliche Studie vollständig zurückziehen.
In der zurückgezogenen Studie ging es darum, dass das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin Covid-Patienten massiv schade. Diese Studie allerdings – war falsch, wie sich später herausstellte. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ schreibt deshalb schon im Juni 2020: „Der ‚Lancet‘ sieht sich gezwungen, einen der größten Rückzieher in seiner modernen Geschichte zu machen. Wie konnte das passieren?“ In Polen derweil kommen die Wissenschaftler bei Hydroxychloroquin zu einem ganz anderen Schluss: Denn hier kommt Hydroxychloroquin – als einzigem Land in der EU – seit März 2020 zum Einsatz.

 

Erst 70 Tage nach der Warnung des internationalen Frühwarnsystems ProMED erklärte die WHO die Koronakriese zur Weltweiten Pandemie, Foto: Anna Shvets von Pexels

 

Die Öffentlich-Rechtlichen – ratlos

Nach nur 6 Monaten Corona in Deutschland ist die öffentliche Meinung massiv zerstritten. Es gibt Demos überall in Deutschland, auch durchaus renommierte Wissenschaftler widersprechen mittlerweile öffentlich den politischen Corona-Maßnahmen – die Stimmung ist angeheizt. So angeheizt, dass WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn im September 2020 eine lange Mail an seine Belegschaft schreibt. Er sei „ratlos“, zitiert ihn die „Süddeutsche“. Denn im Gespräch mit Bekannten sei ihm vorgeworfen worden, dass die Öffentlich-Rechtlichen nicht alle Meinungen zu Wort kommen ließen. Als Reaktion auf die Kritik beschließt die ARD dann im November, das Gespräch zu suchen. Es wird eine Videokonferenz organisiert, in der sich 6 Vertreter der ARD und 5 Corona-Kritiker inhaltlich und respektvoll miteinander austauschen. Denn die ARD wolle „miteinander reden statt übereinander“. Das sei dem öffentlich-rechtlichen Sender, der dem Gemeinwohl diene, wichtig, zitiert die „Süddeutsche“ die ARD.

 

 

Corona in der Deutschen Minderheit

Wie sieht die Situation in der Deutschen Minderheit in dieser Zeit aus? Sybilla Dzumla, die u. a. die „Begegnungsstättenarbeit“ koordiniert, sieht vor allem die psychologische Komponente der Pandemie: „Es gibt keine Entspannung. Man muss ständig 100% wachsam sein.“ Für das kommende Corona-Jahr erwartet sie vor allem zwei mögliche Situationen: „Entweder ganz viel an Gemeinschaft, sobald das wieder möglich ist. Oder – ein Zusammenbrechen der Gemeinschaft, weil sie einfach nicht mehr aktiv ist.“ Denn das Vereinsleben und die Aktivitäten online sind zwar für eine gewisse Zeit eine gute Alternative, sie können aber das persönliche Treffen, die Gespräche und eben die Gemeinschaft nicht ersetzen. Nach einem Corona-Jahr sind also alle in Wartestellung auf eine neue/alte Normalität.

 

 

Leon Schwarzenberg

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