Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Geschichte zum Anfassen

Ich habe die Geschichte berührt. Wie auch immer es sich anhört, nur so kann ich ein Erlebnis bezeichnen, das mir an einem Septembersonntag im Jahr 2016 weit im Westen Deutschlands widerfahren ist. Jemand wird fragen: Wie kann man Geschichte berühren? Es ist sehr einfach, besonders für Menschen, die Geschichte lieben und leben. Sie können die Geschichte berühren, indem sie zum Beispiel einen historischen Gegenstand, ein altes Foto, ein Buch oder ein Dokument finden. Ich habe nichts dergleichen gefunden, aber ich bin auf eine so interessante Geschichte gestoßen, dass ich nicht anders konnte, als sie zu erzählen. Ich, liebe Leserin, lieber Leser, bin auf meinem Weg Zeugen der Geschichte begegnet, Menschen, die mir ihre Geschichten erzählt haben. Das war schon was!

 

Mein Interesse an der Geschichte des Schlosses Radau wurde vor einigen Jahren geweckt, als ich über die Geschichte von Radau recherchierte. Dieses Anwesen ist eine Art Aushängeschild der Ortschaft und schafft gleichzeitig eine gewisse Aura des Geheimnisvollen. Das Schloss steht an der Stelle einer ehemaligen Ritterburg, deren Geschichte bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Das heutige klassizistische Gebäude wurde Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet. Es ging von Generation zu Generation über, zunächst an die Familie von Schmakowski und schließlich an Balthasar von Aulock, den letzten Besitzer des Schlosses.

Ausgiebiges Gespräch mit den Töchtern des letzten Besitzers des Schlosses
Foto:privat

Fotos
Vor etwa zehn Jahren erlebte ich einen für unsere Gemeinschaft ungewöhnlichen Besuch. Zwei Töchter von Balthasar und Brigitte von Aulock, die noch in Radau geboren wurden, Elinor (geb. 1924) und Inez (geb. 1928), kamen nach Radau. Die Damen kamen anlässlich einer großen Schlesienreise, bei der sie ihren Kindern und Enkeln ihre Heimat zeigten.
Damals war ich mir der historischen Bedeutung dieses Besuchs nicht bewusst, aber mit der Zeit wurde mir klar, dass es etwas war, das unser Dorf von anderen unterscheidet. Da ich mich für die Geschichte des Dorfes interessierte und verschiedene Artefakte sammelte, die eine Fundgrube an historischem Wissen darstellen, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf alte Fotos und Postkarten, die unseren Ort verewigten. Damals kam ich zu dem Schluss, dass die Beschaffung von interessantem Fotomaterial über Radau möglich ist, es wäre nur notwendig, den Kontakt zu den Nachkommen der von Aulocks wiederherzustellen.

Also begann ich, mich bei der örtlichen Bevölkerung nach Kontakten zu erkundigen. Schließlich gelangte ich zu einem Radauer, der sich bereit erklärte, mir die Adresse der Enkelin von Balthasar von Aulock, Marie-Theresa von Köckritz, zu geben. Als ich einen Brief auf Deutsch schrieb, war ich besorgt, ob ich das Richtige tat. Ich habe alles auf eine Karte gesetzt und in meinem Brief genau beschrieben, worum es mir ging.

Es war im März 2014, etwa zwei Wochen nach dem Absenden des Briefes erhielt ich eine E-Mail, in der Frau von Köckritz freundlicherweise meiner Bitte um Fotos von Radau nachkam und versprach, ihre Mutter Elinor von Köckritz so bald wie möglich zu besuchen und Scans der Familienalben anzufertigen. Nach weiteren zwei Wochen erhielt ich mit der Post eine CD mit vielen Fotos aus der Zwischenkriegszeit. Es gab Fotografien des Schlosses, der Schlossinterieurs, Familienfotos der von Aulocks, zahlreiche Schnappschüsse des Schlossparks. Ich war begeistert und meine Neugierde als Historiker auf das Nachkriegsschicksal dieser Familie erreichte ihren Höhepunkt. So setzte ich meine E-Mail-Korrespondenz mit Marie-Theresia von Köckritz fort und erkundigte mich in E-Mails und Briefen nach dem Schicksal ihrer Großeltern in der Nachkriegszeit.

Persönliche Begegnung
Als Student und ehemaliger Gymnasiast war ich jedes Jahr zu Ferienarbeiten in Deutschland. Ich war sehr überrascht, als ich feststellte, dass Frau von Köckritz etwa 15 km von meiner Familie entfernt lebte, bei der ich während meiner Aufenthalte in Deutschland gewohnt hatte. Es gelang mir, einen Termin mit ihr zu vereinbaren, und schließlich besuchte ich sie am 24. August 2016 in ihrer Wohnung in einer kleinen Stadt bei Dortmund.

Während dieses Treffens erzählte mir Marie-Theresia viele Geschichten über das tägliche Leben ihrer Mutter, ihrer Onkel und Großeltern im Schloss Radau. Sie schlug dann auch vor, dass ich ihre Mutter und ihre Tante besuchen sollte. Also verabredeten wir uns zu einem Besuch im Haus Forst, denn so heißt das Herrenhaus, in dem Frau Inez von Elverfeldt, die Tochter des heute 93-jährigen Balthasar von Aulock, lebt. Nicht weit vom Herrenhaus entfernt, in einem Gebäude des Gutshofs, lebt Frau Marie-Theresas Mutter, Elinor von Köckritz (97 Jahre alt).
Am vereinbarten Sonntag kamen wir im Foyer von Haus Forst an, und nach wenigen Augenblicken sah ich zwei ältere Damen auf der Schwelle des Salons. Sie waren elegant gekleidet, lächelten und freuten sich sehr darüber, dass jemand aus Radau mit ihnen in Kontakt bleiben und etwas über ihre Geschichte erfahren wollte. Es fiel mir schwer, die Damen sofort mit Fragen über die Geschichte ihrer Eltern zu überhäufen, also begannen sie damit, mir von sich selbst zu erzählen.

Ein Blick auf die Terasse des Hauses Forst
Foto: privat

Sorglose Kindheit
Beide Damen wurden im Schloss Radau als Töchter des dortigen Gutsbesitzers Balthasar von Aulock und seiner Frau Brigitte von Prittwitz geboren. Herr und Frau von Aulock bekamen zwei weitere Söhne, Eberhardt und Carl-Sylvius. Da die Eltern sehr wohlhabend waren, besuchten die Damen nicht die Schule in Radau, sondern Lehrer, die von Aulock bezahlt wurden, kamen für Privatunterricht in das Schloss.

Ihre Kindheit war, wenn man so will, sorglos. Sie wurden als Damen erzogen und erzählten mir viele Anekdoten über ihr ungezogenes Verhalten, wie z. B., dass sie vor einer Lehrerin in den Park flüchteten und sich in Bäumen versteckten. Auch die gemeinsamen Mahlzeiten im Speisesaal des Schlosses waren für die Kinder, insbesondere für die jüngere Inez, oft unerträglich. Sie erinnerte sich, dass sie oft absichtlich am Tisch herumalberte, um ihren Vater, einen alten preußischen Major, zu ärgern, der es schließlich nicht mehr aushielt und „Inez, raus!“ rief. Dann lief sie zufrieden in die Küche, wo sie zusammen mit den Dienern und Köchen die Köstlichkeiten mit den Fingern aß.
Ein weiteres Beispiel für Balthasars preußische Disziplin waren die gemeinsamen Kutschfahrten zur Kirche. Die Messe begann um elf Uhr, also ordnete Balthasar die Abreise um zehn Uhr vierzig an. Selbst wenn er früher fertig war, verließ er das Schloss pünktlich und die Kutsche fuhr zu dieser Zeit ab, unabhängig davon, ob die Kinder es geschafft hatten oder nicht. Inez erinnert sich, wie ihre Brüder manchmal in ihren Anzügen zur Kirche laufen mussten, weil ihr Vater dem Kutscher sagte, er solle fahren, aber um elf Uhr wollte er sie in der Kirche sehen.

 

Zweiter Weltkrieg und Flucht
Im Sommer 1939 wurden einige der Zimmer im Erdgeschoss von der Armee belegt, die sich auf den Einmarsch in Polen vorbereitete. Inez erinnert sich, dass es eine schwierige Zeit war, da man die Zimmer im Erdgeschoss nicht betreten durfte und viele Offiziere und Soldaten im Park herumliefen. An der Südseite des Schlosses, entlang des Parks, wurde ein kleiner Flugplatz für das Flugzeug von Baron von Richthofen eingerichtet, der zu Dienstbesprechungen nach Radau kam.
Ab Herbst 1944 zog es Freunde und Verwandte der von Aulocks nach Radau, die sich selbst aus dem Osten evakuiert hatten aus Angst vor der furchtbaren Roten Armee, die im Januar 1945 ihren letzten Angriff startete, der schließlich Anfang Mai mit der Einnahme Berlins endete. Balthasar konnte also nur einen Entschluss fassen: Man musste fliehen.
Er nahm daher Kontakt zu seinen Verwandten in Thüringen auf und beschloss, dass sie dorthin gehen würden. Die Autos, die sie vor dem Krieg besaßen, waren von der Armee beschlagnahmt worden, und so bildeten sie aus zwei Pferden und einer Postkutsche ein Gespann, hinter dem eine Fuhre mit ihren Habseligkeiten befestigt wurde. Gleich am Morgen des 17. Januar 1945 machte er die letzten Fotos vom Schloss und als alle schon in der Postkutsche saßen, nahm er Streichhölzer und wollte das Schloss in Brand setzen, damit die Russen es nicht bekamen. Die Kinder, die naiv an die Propaganda des deutschen Rundfunks glaubten, riefen jedoch, dass er dies nicht tun solle, da sie ja nur für ein paar Wochen weggingen. So beließen sie das Schloss unversehrt und nahmen nur die wertvollsten und notwendigsten Dinge mit.

Als sie Ende Februar Thüringen erreichten, stellte sich heraus, dass dies nicht das Ende ihrer Odyssee war, denn jenes Land würde bald von den Russen besetzt werden, und Balthasar wollte in der britischen oder amerikanischen Besatzungszone sein. Woher diese panische Angst der Oberschlesier vor den Sowjets kam, muss nicht erklärt werden.

Das Schloss in Radau beherbergt heute ein Seniorenheim
Foto: Jerzy Mrozek /www.polskiezabytki.pl

In Thüringen verlangte die ältere Schwester Elinor, die mit dem Soldaten und Adligen Ludwig von Köckritz verlobt war, von ihrem Vater die Erlaubnis, mit dem Zug nach Südtirol zu fahren, von wo aus sie ihre letzten Briefe von ihm erhalten hatte. Und so reiste Frau Elinor etwa eine Woche lang nach Süden, da die Eisenbahnlinien ständig von alliierten Flugzeugen bombardiert und wegen der Durchfahrt von Militärtransporten gesperrt wurden. Elinor fand ihren Verlobten im März 1945 und sie heirateten sofort, ausgerechnet in Südtirol. Das junge Paar konnte sein neues Leben jedoch nicht genießen, da der Krieg noch andauerte. Von Köckritz musste bereits am nächsten Tag zur Armee zurückkehren. Elinor blieb in der Stadt, in der er seinen Dienst leistete, und beide erlebten dort das Ende des Krieges.
Während die Tochter in Tirol heiratete, mussten die von Aulocks mit ihrem Sohn Sylvius und ihrer Tochter Inez ihre Flucht nach Westen fortsetzen, diesmal in das kleine Städtchen Canstein in Westfalen, wo Balthasars Freunde, die von Elverfeldts, ein Landgut und ein großes Schloss besaßen. Nach vielen Schwierigkeiten und Krisen kamen sie erst Anfang September 1945 in Canstein an. In dem Schloss, das sich malerisch auf einem Felsen hinter dem Dorf erhebt, wurden etwa vierzig Adelsfamilien untergebracht, die ihre Wohnsitze in Ostdeutschland verlassen mussten. Jede Familie hatte nur ein Zimmer im Schloss zur Verfügung.

Neues Leben
Das Glück war den von Aulocks hold, denn der Sohn eines örtlichen Gutsbesitzers beschloss, ihre Tochter Inez zur Frau zu nehmen. Trotz eines beträchtlichen Altersunterschieds, denn Inez war damals achtzehn und ihr Mann einundvierzig Jahre alt, heirateten sie noch 1945 auf Schloss Canstein. Als einer der Erben seines Vaters erhielt der junge von Elverfeldt einen Teil des Anwesens, nämlich das Gut Forst, etwa zwei Kilometer vom Schloss entfernt. Es bestand aus einem Wohnhaus aus dem 18. Jahrhundert sowie aus umfangreichen Wirtschaftsgebäuden, Vieh- und Pferdeställen, Getreidespeichern usw. 1950 baute das Ehepaar ein Herrenhaus, Gut Forst, im Wald, etwa vierhundert Meter vom Landgut entfernt. Inez von Elverfeldt hatte mit ihrem Mann vier Kinder. Leider starb ihr Mann nach zehn Jahren Ehe, und sie ist bis heute Witwe geblieben.
Sechzig Jahre waren vergangen – und ich bemerkte, wie Tränen über das betagte Gesicht der würdevollen Dame liefen. Sie setzte ihre Erzählung fort und kam erneut auf das Schicksal von Frau Elinor zurück. Ihr Mann wiederum wurde nach dem Krieg Diplomat und arbeitete unter anderem in den deutschen Konsulaten in Venezuela, Spanien und Griechenland. Natürlich zogen Elinor und ihre vier Kinder mit ihm um. Schließlich zogen sie, bereits im Ruhestand, in ein altes Mietshaus in Gut Forst, das Inez’ ehemaliges Zuhause war. Die Eltern, Balthasar und Brigitte von Aulock, lebten gemeinsam mit Inez in Gut Forst, wo sie sie bei der Erziehung der Kinder unterstützten. Balthasar arbeitete kurzzeitig als Forstaufseher und schrieb schließlich gegen Ende seines Lebens Kommentare und Buchbesprechungen für lokale Zeitschriften. Er starb 1966 mit einem Stift in der Hand, als er an seinem Schreibtisch einschlief, während er sich Notizen machte. Seine Frau verstarb elf Jahre später, im Jahr 1977. Beide sind auf dem Friedhof der Familie von Elverfeldt begraben, der sich am Fuße des Felsens befindet, auf dem das Schloss steht.

Heimatort Radau
Herr und Frau von Aulock wussten bis an ihr Lebensende nicht, was mit ihrem Schloss geschehen war. Balthasar pflegte zu sagen, dass seine Kinder nach seinem Tod ein Visum beantragen und versuchen könnten, Radau zu besuchen, aber solange er am Leben sei, wolle er die Wahrheit nicht wissen. Er behauptete, dass er es nicht überleben würde, wenn die Russen sein Lebenswerk zerstört haben sollten und zog es vor, in Unwissenheit zu leben.

Nach dem Tod ihrer Eltern beantragten Elinor und Inez 1977 ein Visum für die Einreise in die Volksrepublik Polen und mussten gleichzeitig die ostdeutschen Behörden bitten, ihnen die Einreise zu ermöglichen. Und so besuchten die beiden Damen zum ersten Mal seit zweiunddreißig Jahren ihr Haus, in dem sich zu diesem Zeitpunkt bereits ein Pflegeheim befand. Dank der Tatsache, dass das Personal sie noch aus der Zeit vor dem Krieg kannte, konnten sie hineingehen und erkannten noch die Türklinke und die Eingangstür, die Kachelöfen im Flur und viele andere interessante Details. Es war ihr erster Besuch in Radau, aber nicht ihr letzter, denn sie haben insgesamt mehrere Besuche gemacht, den letzten im Jahr 2008. Jetzt erlaubt es ihnen ihr Alter nicht mehr, nach Radau zu kommen, obwohl sie es sich wünschen.

Ganz am Ende unseres Gesprächs überreichte mir Frau Inez eine Messintention mit der Bitte, sie in der Kirche von Radau für sie zu feiern. Diese Messe fand am 6. Oktober 2016 statt und ich muss zugeben, dass wirklich viele Radauer dazu gekommen sind.

 

Epilog
Die Geschichte dieser Menschen ist unglaublich und könnte endlos erforscht werden, aber es gibt ja viele Fragen, die mir gestellt werden können, viele Dinge, die ich vergessen habe zu fragen und einige Fakten, die ich gehört habe, sind mir sicherlich entfallen. Ich möchte, dass jedem, der sich die Zeit nimmt, diesen Bericht zu lesen, klar wird, was für wunderbare Menschen die von Aulocks waren und immer noch sind. Denn ich stellte Frau Inez eine Frage, die mir von Anfang an auf der Seele lag. Haben sie nicht versucht, ihre Besitztümer nach der Wende in unserem Land wiederzuerlangen? Die Antwort, die ich hörte, ist für einen einfachen Menschen unverständlich und doch so weise. Frau Inez sagte mir, dass es ihnen nie in den Sinn kam, ihre Rechte auf Kosten der Patienten des Pflegeheims, das dem Ruhm Gottes dient, geltend zu machen.

Wir treffen viele Menschen auf unserem Weg, aber oft sind es nur wenige, die man für den Rest seines Lebens nicht mehr vergisst. Deshalb sollten sie wertgeschätzt werden. Diese Erde hat viele von ihnen hervorgebracht und es ist gar nicht so schwer, sie zu finden. Man muss nur einen Moment innehalten, sich von der Hektik der modernen Welt lösen, ein Blatt Papier nehmen und einen Brief schreiben…

Bartosz Grabowski

Bartosz Grabowski (geb. 1996) stammt aus Radau (Kr. Rosenberg). Absolvent der Technischen Hochschule in Oppeln in der Fachrichtung Chemie- und Prozesstechnologie. Zwischen 2013 und 2020 Leitung des u. a. durch seine Initiative entstandene Regionalmuseums in Radau.

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