Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Wir brauchen ein Mehr an Gesprächen“

Mit Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, sprach Lucas Netter über die neugegründete deutsch-polnische Freundschaftsgruppe im Bundesrat, den Zustand der bilateralen Beziehungen und die Lage an der belarussischen Grenze.


Herr Ministerpräsident, im Oktober haben Bundesrat und polnischer Senat eine Freundschaftsgruppe gegründet und Sie auf deutscher Seite zum Vorsitzenden gewählt. Was gab den Ausschlag für diese Initiative?
Wir spüren, dass die politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Vorstellungen in Deutschland und Polen sehr unterschiedlich geworden sind. Bei Meinungsverschiedenheiten sollte man jedoch nicht weniger, sondern mehr miteinander reden. Deshalb freut es uns, dass es mit der deutsch-polnischen Freundschaftsgruppe nun ein neues gemeinsames Engagement in dieser Richtung gibt. Sie ist ein weiterer Baustein, um miteinander zu sprechen, sich zu verstehen und sich in Zukunft wieder anzunähern. Und sie ist ein deutliches Zeichen, dass wir mit Polen gemeinsam die Zukunft gestalten möchten.

Die Freundschaftsgruppe hat den Auftrag, die deutsch-polnischen Beziehungen zu vertiefen und die Zusammenarbeit zwischen Bundesrat und polnischem Senat zu stärken. Was bedeutet das konkret?
Es wird jährliche Treffen zwischen den Mitgliedern der Gruppe geben, aus denen dann gemeinsame Initiativen und Projekte im Bereich der Wissenschaft, der Kultur und der Begegnung zwischen Polen und Deutschen erwachsen. Unser Ziel ist, dass möglichst viele Menschen aus Polen und Deutschland zusammenkommen, einander kennenlernen und gegenseitige Vorurteile – die es ja immer wieder gibt und die auch immer wieder neu entstehen – abgebaut werden. Das Spannende ist, dass sich die Freundschaftsgruppe aus Persönlichkeiten zusammensetzt, die in außerordentlich wichtigen Funktionen in ihren jeweiligen Ländern sind – in Regierungsverantwortung, als Minister, als Abgeordnete oder als Regionalverantwortliche. Von daher ergibt sich durch die Personen, die in der Gruppe zusammenkommen, eine große Chance, die gemeinsam entworfenen Initiativen auch umzusetzen.

Die Freundschaftsgruppe besteht auf deutscher Seite aus 17 Mitgliedern und 16 Stellvertretern verschiedener Parteien und auf polnischer Seite aus insgesamt 13 Senatoren, ebenfalls mit unterschiedlicher Parteizugehörigkeit. Wie kam die Zusammensetzung zustande?
Bei der Zusammensetzung derartiger Freundschaftsgruppen geht es immer um die Frage, wer Interesse an der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und auch Verbindungen ins jeweilige Partnerland hat. Im Falle der deutsch-polnischen Freundschaftsgruppe sind natürlich diejenigen Politiker mit dabei, die aus dem Grenzgebiet kommen und schon seit jeher die deutsch-polnische Freundschaft leben, zum Beispiel auch der Ministerpräsident Brandenburgs und Polen-Koordinator der Bundesregierung Dr. Dietmar Woidke, von dem auch die Initiative zur Gründung der Freundschaftsgruppe ausging.

Werden in der Freundschaftsgruppe auch Minderheitenthemen eine Rolle spielen?
Selbstverständlich. Die deutsche Minderheit in Polen ist ein ganz wichtiger Brückenbauer und ein fester Pfeiler der deutsch-polnischen Partnerschaft. Als gebürtiger Görlitzer unterstütze ich zudem seit vielen Jahren die Zusammenarbeit Sachsens mit der deutschen Minderheit. Wir hatten bereits zahlreiche entsprechende Treffen und ich versuche auch viel für den Kulturaustausch zu tun. Besonders mit Niederschlesien arbeiten wir eng zusammen. In Sachsen wie in ganz Deutschland nehmen wir die Arbeit der deutschen Minderheit in Polen deutlich wahr und schätzen sie sehr.

Wie bewerten Sie generell den momentanen Zustand der deutsch-polnisch-europäischen Beziehungen?
Meines Erachtens ist es kein gutes Konzept, wenn man sich bei Meinungsunterschieden voneinander abwendet, denn gerade dabei braucht es – wie gesagt – ein Mehr an Gesprächen. Und ich halte es für nicht erfolgsversprechend, sich gegenseitig zu verklagen. Da ist die Europäische Union aus meiner Sicht auf einem falschen Weg. Wir haben in der Geschichte der europäischen Gemeinschaft viele Krisen erlebt, und sie wurden dadurch bewältigt, dass man miteinander redet, den Ausgleich sucht und Unterschiede erträgt, wohl wissend, dass Demokratien auch eine eigene Kraft haben müssen, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Vieles, was derzeit in Polen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit passiert, ist meiner Meinung nach ein Fehler und wird mit Sicherheit auch in der polnischen Bevölkerung so gesehen. Aber die Dinge von außen durch Klageverfahren zu erzwingen, das wird schiefgehen und die Zusammenarbeit in Europa weiter belasten und gefährden. Mein Standpunkt ist: Wir – Polen und Deutschland – leben gemeinsam in einem Haus Europa.

Was erwarten Sie von der kommenden Bundesregierung im Hinblick auf die weitere Entwicklung der bilateralen Beziehungen?
Ich wünsche mir von deutscher Seite, dass man versucht, miteinander ins Gespräch zu kommen – und zwar in einer Haltung des Respekts und des Versuchs, den polnischen Standpunkt zu verstehen, nicht mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger. Auch wir in Sachsen werden dies weiterhin tun.

Mit der prekären Situation der Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze erleben wir aktuell eine weitere Krise in Europa. Was ist Ihrer Meinung nach jetzt zu tun?
Polen leistet derzeit sehr viel zum Schutz der EU-Außengrenze – und das in einer ganz besonderen Situation, denn wir haben es hier mit Staatsterrorismus zu tun. Da müssen wir als Europäische Union handlungsfähig sein. Es geht jetzt darum, diese Grenze zu sichern. Polen braucht für diese wichtige Aufgabe den Rückhalt der gesamten europäischen Familie. Und es braucht das aktive Agieren der EU mit Sanktionen gegen die beteiligten Fluggesellschaften und die Mitglieder des belarussischen Regimes.

Macht sich die Krise auch an der sächsisch-polnischen Grenze bemerkbar?
Die Flüchtlingszahlen sind auch bei uns dramatisch gestiegen. Keine Grenze ist hundertprozentig sicher. Aber: Wir müssen einem Staatsterroristen die Stirn bieten – und das passiert in Polen. Die Menschen, die dann die Grenze trotzdem überschreiten, werden anständig behandelt, gesundheitlich untersucht, verpflegt und bekommen dann zügig ein Asylverfahren, das in fast allen Fällen mit der Ablehnung und der Ausreise in die Herkunftsländer enden wird. Auch deswegen müssen wir alles dafür tun, dass der Zustrom aufhört, denn diese Menschen haben keine Chance, in Deutschland bleiben zu können.

Herr Ministerpräsident, vielen Dank für das Gespräch.

 

Darstellung: Wochenblatt.pl; Quelle: bundesrat.de/senat.gov.pl

Titelfoto: CDU Landesverband Sachsen

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