Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Von der Liebe zum Hass

Noch am 26. Juli 1997 wussten nur wenige Deutsche von seiner Existenz, nur Wenige begeisterten sich über sein Talent. Doch bereits einen Tag später liebte ihn das ganze Land, ja, es wurde geradezu verrückt nach ihm. Er war so berühmt geworden, dass er keine zehn Meter vor sein Haus gehen konnte, ohne um ein Autogramm gebeten zu werden. Er genoss so viel Achtung, dass man ihn wie Franz Beckenbauer einen „Kaiser” nannte!

 

Jan Ullrich ist der erste deutsche Radrennfahrer, der die Tour de France gewonnen hat
Foto: Heidas/Wikipedia

 

Gemeint ist der am 2. Dezember 1973 in Rostock geborene Jan Ullrich. Dieser Rausch war auch begründet, denn als erster Deutscher gewann er die Tour de France – das größte und mörderischste Radrennen der Welt, im Vergleich zu dem ein Olympia- oder WM-Rennen ein Kinderspiel sind. Viele glaubten damals, der Welt habe sich nun der Nachfolger des spanischen Radsport-Phänomens Miguel Indurain offenbart. Denn wenn er mit 24 Jahren schon so gut ist, wieso sollte er die „Große Schleife“ dann nicht auf Jahre hin dominieren? Niemand ahnte, dass der erste große Erfolg Jan Ullrichs auf dem Champs-Élysées auch sein letzter sein würde. Und dass dieser stille Junge aus Rostock sich im Leben ernste Probleme einhandeln würde.

 

Bester Tag in der Karriere

Um zu verstehen, was bei der Tour de France 1997 geschah, muss man sich zunächst bis zu dem Rennen von 1996 zurückversetzen. Jan Ullrich debütierte dabei als ein Helfer des Dänen Bjarne Riis im Telekom-Team. Niemand erwartete Wunder von ihm, schließlich muss jeder „Grünschnabel” ja bei einem solchen Event sein Lehrgeld zahlen. Wie groß war daher die Verwunderung der Fans, als sich herausstellte, dass der deutsche Radrennfahrer nicht „kaputtzufahren” war! Jan Ullrich präsentierte sich glänzend, ja, er war in jenem Sommer nach Ansicht vieler sogar stärker als der neun Jahre ältere Däne. Zudem war er nicht auf seine Form fokussiert – das Wichtigste war für ihn, Bjarne Riis bei den entscheidenden Etappen zu helfen. Der Deutsche tat das, was man ihm über Jahre in der DDR beigebracht hatte: Er opferte sich für sein Team. Ohne Wenn und Aber hielt er sich an die Hierarchie, was sich für ihn bei der darauffolgenden Tour de France auszahlen sollte. Die von 1996 beendete er übrigens als Vizemeister und lag dabei nur eine Minute und 41 Sekunden hinter Bjarne Riis. Eine fantastische Leistung, die ihm auch so richtig Appetit machen musste. Doch zwölf Monate später, bei der nächsten Tour de France, war Jan Ullrich immer noch nur ein Helfer von Bjarne Riis, der dabei seine Dominanz bestätigen und der Welt zeigen wollte, er sei so gut wie Miguel Indurain. Doch am 15. Juli 1997 konnte der Däne bei der zehnten Etappe das Tempo Jan Ullrichs nicht mithalten, ebenso wie das ganze restliche Hauptfeld. Radsportexperten vermuten nun bis heute: Würde Jan Ullrich den einen konkreten Tag nennen müssen, den er für den besten in seiner Karriere hält, würde er sich eben für den 15. Juli 1997 entscheiden, obwohl er ja auch Olympiasieger ist.

 

Ullrich-Manie in Deutschland

Denn bei der denkwürdigen Tour de France 1997, und zwar beim Bergfahren zur Ordino-Arcalís, „verdrosch” er alle damaligen großen Bergspezialisten, darunter Marco Pantani und Richard Virenque. Die Veteranen des Weltklasse-Hauptfeldes konnten nur ungläubig dreinblicken, wie der rothaarige Deutsche mit seinem charakteristischen Ohrring sie mit Leichtigkeit hinter sich ließ. In jenem Sommer konnte nun wahrlich niemand mehr Jan Ullrich das Wasser reichen. Nach der zehnten Etappe übernahm er das „Gelbe Trikot“ als Spitzenreiter der Tour de France und gab dieses dann auch nicht mehr ab. Der in der Gesamtwertung zweitbeste Franzose Richard Virenque lag am Ende 9 Minuten und 9 Sekunden hinter ihm zurück. Eine Kluft! Große Klasse zeigte dabei übrigens Bjarne Riis, indem er sich öffentlich über den Triumph seines Ex-Helfers freute: „Er war ganz klar der Stärkste von uns allen. Er hat den Sieg verdient, nicht zuletzt durch seinen großartigen Beitrag im vorigen Jahr, als er mir geholfen hat. Ich freue mich, dass das Gelbe Trikot in der Familie des Telekom-Teams geblieben ist“. Nach diesem Erfolg wurde Jan Ullrich in Deutschland zum Sportler des Jahres gekürt. „Man kann sagen, es begann im Land so etwas wie eine ,Ullrich-Manie’, obwohl der Radsport bis dahin ja nicht sonderlich populär war in Deutschland, vor allem nicht im westlichen Teil des Landes“. In der ehemaligen DDR aber schon: Dort erwähnen ihn Radsport-Experten im Eurosport bis heute bei jeder Gelegenheit, wenn über Jan Ullrich gesprochen wird. In den nachfolgenden Jahren konnte sich der Radsport dennoch nicht so stark etablieren wie anfangs gedacht.

 

Als Mensch nicht reif geworden

Vor allem Jan Ullrich gab den Fans nicht so viel Grund zur Freude, wie man sich erhofft hatte. Nie mehr konnte er eine Tour de France gewinnen, auch wenn er das Rennen gleich vier Mal als Zweiter beendete! 1998 zeigte sich ihm zunächst Marco Pantani überlegen, danach folgte bekanntlich die Ära von Lance Armstrong. Zwischen 1998 und 2003 nannte kaum noch jemand Jan Ullrich salbungsvoll einen „Kaiser”. Wenn Fans und Medien einen Beinamen benutzten, dann hieß es eher spöttisch, er sei „der ewige Zweite”, obwohl er zwischendurch ja hin und wieder ein prestigeträchtiges Rennen gewann, darunter eine sehr schwierige Vuelta a España. Man hackte auch vielfach auf Ullrichs Psyche herum. Viele glaubten, dass der Radsportler auf Dauer dem Druck nicht standhalten konnte, wenn er auf den Titelblättern der Zeitungen als Favorit dargestellt wurde. Dass es für ihn problematisch sei, in schwierigen Momenten eines Rennens wichtige Entscheidungen zu treffen. Dass er von gewaltigem Stress zerfressen werde. Auf all dies nahm 2006 der deutsche Journalist Sebastian Moll einen interessanten Bezug. Demnach sei Jan Ullrich ein „Produkt” Ostdeutschlands und habe sich vielleicht deshalb als erwachsener Mensch, als Sportler, nie an die Mentalität des Westens anpassen können. Als er elf Jahre alt war, wurde er als ein sportlich begabtes Kind von einem Rostocker Klub zu Tests nach Berlin geschickt. DDR-Wissenschaftler befanden damals, dass sie mit ihm nun möglicherweise einen künftigen Olympia-Medaillengewinner vor sich hatten. Zwei Jahre später zog er deshalb nach Rostock um. Ob ihm dort aber jemand beibrachte, schwierige individuelle Entscheidungen zu treffen? Hatte damals jemand von kreativem Denken gehört? Hatte ihn jemand zu einer Medienschulung eingeladen, damit er lernte, wie man mit Journalisten spricht? Hatte ihm jemand eine sportpsychologische Beratung ermöglicht? Nein…

 

Fluch des alten Systems

Trotzdem sind in der Radsportwelt viele der Meinung, dass Jan Ullrich hätte viel mehr erreichen müssen. Das System habe ihm ja alles vorgeliefert. Die DDR bestimmte, wo er schlief, was er aß, was er lernte und vor allem, wie er zu trainieren hatte. Ihm wurde von morgens bis abends gesagt, was er machen sollte und wie. Wieder und wieder hörte er: Das Kollektiv ist alles, der Einzelne ist nichts. Da ist es ja sehr gut möglich, dass jemand, der unter solchen Bedingungen aufwuchs, der vom alten System durchtränkt war, in der neuen Wirklichkeit dann so seine Probleme haben mochte. Diese waren laut Sebastian Moll übrigens bereits 1996, noch vor Ullrichs Glanzzeit, erkennbar. Nachdem er damals Zweiter bei der Tour de France wurde, dachte er nicht einmal daran, vom Telekom-Team zu einem anderen Team zu wechseln, um dessen Spitzenreiter zu werden. Er verspürte kein derartiges Bedürfnis, denn ihm war ja eingeprägt worden, es sei das Wohl der Mannschaft, was zähle, nicht sein eigenes. Deshalb war er, als Bjarne Riis 1996 die Tour de France gewann, so glücklich, als ob er selbst der Sieger gewesen wäre. Jan Ullrich, der ja so hart für seinen Erfolg gearbeitet hatte, sagte nur: „Er ist mein Kapitän! Ich bin stolz, dass ich für ihn fahren durfte”. Mehr noch, bei der für Jan Ullrich siegreichen Tour de France 1997 dachte er während der für seinen Triumph entscheidenden Etappe am 15. Juli 1997 ebenfalls nicht an sich selbst, sondern an Bjarne Riis. Die Wendung kam erst, als der Däne ihm das Zeichen gab, er solle auf niemanden mehr Acht geben und selber nach vorn preschen. Jan Ullrich führte Riis’ Anweisung aus. Hätte aber dieser Jan Ullrich gesagt, an ihm dran zu bleiben, so kann man sich sicher sein, dass genau das auch geschehen wäre und es hätte jenen ersten Triumph eines deutschen Radrennfahrers bei der Tour de France dann nie gegeben.

 

Ullrich contra Armstrong

Man mag natürlich behaupten, Jan Ullrich habe ganz einfach die Eigenschaften eines guten Helfers gehabt und sein Verhalten sei durchaus verständlich gewesen, denn der Radsport ist ja gewissermaßen ein Mannschaftssport. Einerseits stimmt das ja, immerhin aber war das Ausmaß der Verbundenheit Ullrichs mit dem Team und dem Spitzenreiter enorm, größer als die eines durchschnittlichen Sportlers, der in einer anderen Realität erzogen wurde. Und da wir schon von Ullrichs Jugendjahren schreiben, so sei noch ergänzt, dass sein größter Amateur-Erfolg ein Weltmeistertitel war. Jan Ullrich war damals der Schnellste der vier zusammen spurtenden Radrennfahrer und zeigte dabei riesige Sprintqualitäten. Nur einen Tag später griff bei den Profis der US-Amerikaner Lance Armstrong erfolgreich nach der Weltmeisterkrone. Nach jenem Wochenende sprach die ganze Welt nun hauptsächlich von dem jungen Amerikaner, der sich unter anderem gegen Miguel Indurain und den vor allem für seine fantastischen Leistungen beim Friedensrennen bekannten Ex-DDR-Deutschen Olaf Ludwig durchsetzen konnte. Allerdings nahm der inzwischen 27-jähnrige Jan Ullrich bei den Olympischen Spielen in Sydney im Jahr 2000 an Lance Armstrong Revanche und war dabei absolut konkurrenzlos. Die australische Rennstrecke war fast 240 Kilometer lang und in 14 Runden unterteilt. Um die Goldmedaille kämpfte Jan Ullrich dabei gegen den Kasachen Alexander Winokurow und seinen Landsmann Andreas Klöden. Drei Kilometer vor dem Ziel fuhr er den Beiden davon. Auf der letzten Geraden schaute er sich mehrmals um, hob seine Arme triumphierend in die Höhe und als er die Ziellinie passierte, machte er das Zeichen des Kreuzes. Bekreuzigen konnten sich Ullrichs Fans, als später seine Dopinggeschichten ans Licht kamen. 2013 gestand Ullrich übrigens auch öffentlich, unerlaubte Mittel eingenommen zu haben.

 

Keine Negativ-Ausnahme

Mit diesem Bekenntnis ergoss sich auch eine Welle der Abneigung über ihn. So manchem Fan in Deutschland, der ihn zuvor grenzenlos angehimmelt hatte, war er nunmehr geradezu verhasst. Allerdings war Jan Ullrich in der Radsportwelt keineswegs eine Ausnahme in Sachen Doping. Gedopt hatte nämlich so gut wie die gesamte Spitze. Es wäre ja sonst ein Ding der Unmöglichkeit, etwa bei der mörderischen Tour de France Anhöhen hinaufzufahren, wo ein Jeep zum Stehen kam, und das auch noch in einem Renntempo! Ein Radrennfahrer musste sich deshalb entscheiden, entweder an solchen – sehr gut bezahlten – Events erst gar nicht teilzunehmen, oder eben Dopingmittel zu nehmen. Wer sich für die erste Lösung entschied, war oft als ernstzunehmender Sportler bald am Ende, und wer das andere tat, machte sich schuldig. Dabei waren sie aber nicht die einzigen Schuldigen, denn die eigentliche Hauptschuld trugen die Organisatoren, die sich derartige mörderische Strecken aussuchten. Sie verlangten nach einem Schauspiel, nach sprichwörtlichem Blut, nach Supermännern und riesigen Profiten, ohne auf die Gesundheit der jungen Menschen zu achten! „Für mich beginnt ein Betrug dort, wo er einen Vorteil bringt. Dem war aber nicht so. Ich habe nichts genommen, was nicht auch andere genommen hätten. Ich wollte ja nur gleiche Chancen gegenüber den anderen Radrennfahrer”, sagte Jan Ullrich. Ob er damit im Recht war? Im Radsport-Milieu mangelt es bis heute nicht an Journalisten, Radrennfahrern, Experten und Fans, die genau dieser Auffassung sind. Da diese Meinung sehr weit verbreitet ist, hat man Jan Ullrich auch nicht von der Siegerliste der Tour de France gestrichen! Ebenso wurde ihm sein Olympia-Gold nicht weggenommen. Für ungültig erklärt wurden allerdings seine Leistungen aus der Endphase seiner Karriere, beginnend mit dem 1. Mai 2005. Dies geschah in Verbindung mit seiner Zusammenarbeit mit dem Doping-Arzt Eufemiano Fuentes, der ihm Bluttransfusionen verabreicht hatte sowie das Wachstumshormon und Testosteron verwendete.

 

Mit dem Alter nicht vernünftiger geworden

Während die gewiss unmoralischen Doping-Affären noch irgendwie erklärbar sind, so lässt sich beim Blick in Ullrichs Leben nach dem Ende seiner Karriere feststellen, dass er nicht gerade besonnener wurde. Mehr noch, seine Doping-Skandale verblassen im Vergleich mit seinem privaten Leben, was aber wahrscheinlich auf die Geschehnisse während seiner aktiven Sportlerkarriere zurückzuführen ist. So verursachte er u.a. einmal betrunken einen Unfall, und ein anderes Mal verprügelte er auf Mallorca den bekannten deutschen Schauspieler Til Schweiger, der sein Nachbar war. Auch ein Bekannter Schweigers bezog Prügel von ihm, weil laut Ullrich die Leute, mit denen er auf seinem Anwesen eine Party feierte, zu laut waren. Den Medien zufolge schlug Jan Ullrich auch eine Prostituierte in einem Hotel schwer zusammen. Zwischenfälle wie diese lassen sich noch viele aufzählen. Manch ein Psychologe wird sicherlich sagen, diese schrecklichen Verhaltensweisen ergäben sich aus einer jahrelangen Einnahme von Dopingmitteln und Drogen sowie seinem Alkoholmissbrauch. Fans meinen wiederum, Jan Ullrich werde bei dieser Lebensführung seinen 50. Geburtstag (heute ist er 47 Jahre alt) nicht erleben. Vielleicht aber ist der große Radrennfahrer inzwischen doch über den Berg. Seine Entziehungskuren sollen nun angeblich ihre Wirkung gezeigt haben, auch wenn er selbst es nicht bestätigt, weil er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat. Dafür aber sagte sein Bruder Thomas unlängst gegenüber deutschen Medien: „Jan geht es gut, immer besser. Er ist jetzt wieder glücklich, weil er viel Zeit mit seinen Kindern verbringt”. Angeblich fährt er auch regelmäßig Rad zusammen mit einer kleinen Gruppe von Freuden, ohne Zuschauer, Doping und Druck. Einfach so zum Spaß. Denn abgesehen davon, wie man ihn als Menschen wahrnimmt, steht doch eines fest: Der Radsport ist seine große Liebe. Für mich persönlich ist er der größte deutsche Radsportprofi. Schade nur, dass manchmal sogar eine absolut glanzvolle Karriere durch solche Risse entstellt sind wie bei Jan.

 

Krzysztof Świerc

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