Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Polygamie des Blicks

Nach der Pressekonferenz im Infopunkt Barbara an der Schweidnitzer Straße (Świdnicka 8c): Marko Martin (links) im Gespräch mit dem Dolmetscher Tomasz Schulz, der das Deutsche Kulturforum östliches Europa nach langjähriger Tätigkeit verlässt Foto: Johannes Rasim
Nach der Pressekonferenz im Infopunkt Barbara an der Schweidnitzer Straße (Świdnicka 8c): Marko Martin (links) im Gespräch mit dem Dolmetscher Tomasz Schulz, der das Deutsche Kulturforum östliches Europa nach langjähriger Tätigkeit verlässt
Foto: Johannes Rasim

Am 19. April wurde der neue Stadtschreiber von Breslau (Wroclaw) vorgestellt: Der Schriftsteller und Publizist Marko Martin wird aus der Europäischen Kulturhauptstadt 2016 berichten. Vor der Amtseinführung wurde Martin von Breslaus Stadtpräsidenten (Oberbürgermeister) Rafał Dutkiewicz empfangen.

 

Seit 2009 vergibt das „Deutsche Kulturforum östliches Europa“ (Potsdam) ein Stadtschreiber-Stipendium. Der Literaturpreis soll das gemeinsame kulturelle Erbe der Deutschen und ihrer Nachbarn in jenen Regionen Mittel- und Osteuropas, in denen Deutsche gelebt haben und heute noch leben, in der Öffentlichkeit bekannt machen. Die Odermetropole Breslau ist die zweite Stadt in Polen, die einen Stadtschreiberstipendiaten bekommt – bereits 2009 berichtete die deutsch-polnische Schriftstellerin Sabrina Janesch als Stadtschreiberin aus Danzig (Gdańsk).

 

Über die Tätigkeit des neuen Stadtschreibers sagte eingangs der Pressekonferenz im Infopunkt Barbara der Vorstandsvorsitzende des „Deutschen Kulturforums östliches Europa“ Winfried Smaczny: „Unser Stadtschreiber ist eine Art Botschafter und hat eine doppelte Funktion. Er soll die Wirkung, welche die Stadt und ihre Bewohner auf ihn haben, nach Innen (Schlesien) und nach Außen (Deutschland) reflektieren und im günstigen Fall ein Gefühl der Nähe und Nachbarschaft erzeugen. Er soll die Vielfalt europäischer Unterschiede und dennoch Verbundenheiten beleuchten, sowie den Informationsverlust, den Grenzen erzeugen, beheben helfen.“ Marko Martin erwiderte bescheiden: „Ich wage es nicht, mich mit der Rolle eines Botschafters zu identifizieren – ich bin ein ganz normaler Schriftsteller, der als Beobachter und als Flaneur diese Stadt entdeckt, und zwar sowohl in ihrer Gegenwart, als auch in ihrer wechselvollen Vergangenheit.“

 

Winfried Smaczny zeigte sich über das allgemeine Interesse in Breslau positiv überrascht: „Die regionalen und lokalen Medien waren bei der Vorstellung des Stadtschreibers sehr stark vertreten – ganz anders als beispielsweise im ostslowakischen Kaschau (Košice) 2013 oder in Pilsen (Plzeň) im vergangenen Jahr, als die Städte jeweils auch Kulturhauptstädte Europas waren. Die Funktion des Stadtschreibers ist für die Polen ziemlich unverständlich, denn es gibt zwar ein Wort dafür, jedoch kann mit dem Begriff „pisarz miejski“ kaum jemand etwas anfangen. Es wird also in jeder Hinsicht interessant sein, ob und wie die Menschen auf den eingerichteten Blog des Stadtschreibers reagieren werden.“

 

Nach einem Plan und Schwerpunkten seiner Tätigkeit gefragt, sagte Marko Martin: „Es wird ein literarisches Tagebuch. Die Schwerpunkte setzt die Gestimmtheit des Tages. Ich werde die Biographien der Menschen dieser Stadt, die hier leben und gelebt haben, beschreiben. Im Blog werden reportageartige, aber auch poetische Elemente vorkommen. Und einen Plan für den Blog? Dazu möchte ich ein Zitat von Witold Gombrowicz anführen, das ich bereits in einem meiner Erzählbände als Motto vorangestellt hatte: „Sie fragen, welchen Plan ich habe? Gar keinen. Ich gehe der Linien der Spannungen nach, verstehen Sie? Ich gehe der Linien der Erregung nach.“ Die Passage stammt aus Gombrowicz´ „Pornographie“. Es geht nicht um „das Eine“, sondern um „das Andere“: um die immer wieder neu zu erlernende Flexibilität des Auges, die Polygamie des Blicks, den Sinn für das stets Fragmentarische der eigenen Wahrnehmung, das ambivalent Palimpsest-Artige des Geschauten.“

 

Johannes Rasim

 

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