Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Wir wollen wieder zurück“

Die Russin Olga und der Ukrainer Petro sind mit ihrer dreijährigen Tochter aus Kiew über Polen nach Berlin geflohen. Sie gehören damit zu den mittlerweile über zweieinhalb Millionen Menschen, die wegen Putins Krieg ihre Heimat verlassen mussten. Wir haben die Familie auf dem letzten Abschnitt ihrer Reise begleitet.

Noch vor Kurzem ist für Olga und Petro die Welt in Ordnung. Sie bewohnen zwei Zimmer in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die 33-Jährige arbeitet als Lehrerin an einer Montessori-Schule, der 28-Jährige ist Spiele-Entwickler und Musiker im Herzen, der gern Ukulele spielt. Die Russin und der Ukrainer gehören einer aktiven jüdischen Gemeinschaft an, hier lernen sie sich kennen und lieben, ihr Glück krönt 2019 die Geburt von Tochter Lisa. Jetzt sind die drei auf der Flucht.

„Wir dachten erst, wir waren zu panisch“

Einen großen Reisekoffer haben sie dabei, zwei prall gefüllte Backpacker-Rucksäcke und etwas Handgepäck. Die dreiköpfige Familie ist gut vorbereitet. Sie haben es geahnt: Womit Russlands Staatschef Wladimir Putin zuletzt immer nachdrücklicher droht, macht er wahr. Und tatsächlich: Am 24. Februar fallen in der ukrainischen Stadt Charkiw die ersten Bomben. Russland bringt nach über 75 Jahren Frieden den Krieg nach Europa zurück. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich Olga und Ehemann Petro mit der gemeinsamen Tochter im westukrainischen Lemberg, wo sie sich bereits seit zehn Tage aufhalten. Sie waren aus Kiew hierhergekommen, um im Falle eines russischen Angriffs möglichst schnell und unkompliziert die Ukraine über das nahe gelegene Nachbarland Polen verlassen zu können. „Wir waren anderthalb Wochen in Lemberg und nichts ist in dieser Zeit passiert, wir dachten zuerst, wir hätten die falsche Entscheidung getroffen, dass wir zu panisch waren“, sagt Olga.

Die Familie ist von Kiew nach Berlin geflüchtet. Hier im Zug von Polen in die deutsche Hauptstadt. Foto: Marie Baumgarten

Als auch in Lemberg Fliegeralarm ausgelöst wird, wissen sie: Aus ihrer Vorahnung ist traurige Gewissheit geworden. Jetzt muss alles ganz schnell gehen. Die Familie hat kein Auto und ist deshalb auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Welcher Bus fährt wann wohin – die israelische Botschaft unterstützt im Chaos bei der Koordinierung. Von Lemberg geht es in Richtung polnischer Grenze. Es dauert viele Stunden, die Straßen sind überfüllt, die Menschen in Panik.

Flüchten oder kämpfen?

In der Zwischenzeit ruft der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Ausreiseverbot für wehrfähige Männer aus. Für Petro bedeutet das, er darf das Land nicht mehr verlassen. „Wäre mein Mann geblieben, wäre auch ich geblieben“, versichert Olga. Petro versucht es trotzdem. Bei der Grenzkontrolle zeigt er einfach seinen israelischen Pass anstelle seines ukrainischen vor. Zuerst scheint der Plan aber nicht aufzugehen, weil der Pass keinen gültigen Einreisestempel hat. Petro legt also doch das ukrainische Dokument vor. „In diesem Moment dachten wir: Das war‘s, wir kommen hier nicht raus. Weil Petro aber schon im System für die Ausreise registriert war, hat man ihn durchgewunken. „Wir hatten großes Glück.“

Als sie den polnischen Grenzort Przemyśl erreichen, sind sie völlig übermüdet. Sie übernachten im Bahnhof, das Personal versorgt sie mit Decken und Nahrung. „So viel Hilfsbereitschaft habe ich nicht erwartet, das mich sehr berührt, ich habe geweint“, sagt Olga. Endlich in Sicherheit. Erleichterung auf der einen Seite, auf der anderen die Angst um die Eltern und die Freunde, die im hart umkämpften Kiew geblieben sind. „Sie sind in der Selbstverteidigung aktiv und unterstützen das Militär, indem sie zum Beispiel Molotov- Cocktails bauen. Ich habe Angst um sie.“ Natürlich, sagt Petro, habe er darüber nachgedacht, auch zu bleiben und für sein Land zu kämpfen. „Aber meine Familie ist mir wichtiger.“

Am nächsten Tag nehmen sie den Zug nach Krakau, werden hier von einer fremden Familie für zwei Nächte beherbergt, dann geht es weiter nach Berlin – die Fahrt ist in diesen Tagen für Reisende mit ukrainischem Pass kostenfrei.
Im oberschlesischen Oppeln steigen wir dazu und kommen mit der Familie ins Gespräch. Offen und klar erzählen sie, was sie erlebt haben. Es scheint, als trage ein unerklärlicher Optimismus sie über den Schrecken der vergangenen Tage hinweg. „Wir haben uns für Berlin entschieden, weil wir hier Freunde haben“, erklärt Olga. „Ich hoffe, wir können bald wieder zurück, wir wollen nirgendwo anders sein“, schiebt sie nach. „Bevor der Krieg kam, dachten wir: Vielleicht wollen wir noch einmal etwas anderes probieren, woanders leben. Aber jetzt wissen wir: die Ukraine ist unser Zuhause“, Olga lächelt.

Die Rolle von Wolodymyr Selenskyj

Eine alte Weisheit, so abgedroschen wie wahr, besagt: Man weiß erst, was man hat, wenn es nicht mehr da ist. Möglicherweise gilt das gleiche für die Ukraine. Denn es scheint, eben dieser Umstand hat bei den Ukrainern einen ungeahnten Patriotismus entfacht.

„Meine Freunde, die noch in Kiew sind, sagen: Wir könnten jetzt überall Zuflucht finden, auch in den USA. Aber ich sitze hier auf dem Boden meiner Wohnung in Kiew, Bomben fliegen über meinem Kopf, und es ist für mich der schönste Platz auf Erden“, erzählt Petro nicht ohne Stolz.

Wenn der Krieg vorbei ist, sagen sie, wollen sie helfen, ihr Land wiederaufzubauen. Trotz düsterer Prognosen: An einem Sieg für die Ukraine zweifeln sie nicht. Das habe auch mit ihrem Präsidenten zu tun, der in dieser schwierigen Lage alle durch seinen Mut und seine Entschlossenheit überrascht und inspiriert habe. In täglichen Video-Botschaften versichert er seinem Volk: Ich bin hier bei euch. Wir schaffen das. „Ich bin sehr stolz auf ihn. Er ist bei seinem Volk und die Menschen spüren das. Sie sagen: ich habe ihn zwar nicht gewählt, aber jetzt glaube ich an ihn“, erzählt Olga. Und es hat auch etwas mit ihnen als Familie gemacht. Anders als vorher, sprechen sie jetzt nicht mehr Russisch miteinander. Sie haben zum Ukrainischen gewechselt – so wie dieser Tage viele andere mit ihnen.

Berlin Hauptbahnhof ist nun nicht mehr weit. Eine Ansage mit wichtigen Hinweisen richtet sich an die Flüchtenden, auch in deren Muttersprache. Nach vier langen Tagen endet diese Reise für Petro, Olga und die dreijährige Lisa am Berliner Bahnhof in den Armen der Freunde.

Marie Baumgarten

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