Es gibt einen solchen Ort
Europa ist ein Kontinent, der nur passiven Fernsehzuschauern bekannt und daher langweilig und vielleicht „alt“ vorkommt, wie man ihn gewöhnlich nennt. Dabei ist es lebendig, erstaunlich, zeigt immer neue Facetten, die für die einen vertraut und die anderen faszinierend sind. Für mich, einen Bewohner Polens, ist es frappierend, was in Târgu Mureș / Marosvásárhely / Neumarkt am Mieresch (Rumänien) an einem Sonntagmorgen alles möglich ist.
Innerhalb von zwei Stunden besuchte ich die Sonntagsmesse in einer römisch-katholischen und zwei orthodoxen Kirchen. Diese Gotteshäuser stehen auf einem Platz im Stadtzentrum. Alle Gotteshäuser waren mit Gläubigen gefüllt. Man könnte auch in einer lutherischen, calvinistischen und griechisch-katholischen Kirche einen Gottesdienst besuchen. Wenn man aus Polen kommt, wo nationale Minderheiten „Hungerrationen” von minderheitensprachlichem Unterricht erhalten, kommt man in dieser Stadt in Siebenbürgen, wo aufgerundet 60 Prozent der Einwohner Rumänen und 40 Prozent Ungarn sind (aber es gibt auch Deutsche, Armenier, Roma und Juden), aus dem Staunen nicht mehr heraus. Denn plötzlich stellt sich heraus, dass jede dieser Gemeinschaften ihre eigenen Schulen hat und ungarische Jugendliche sich beklagen, dass sie zu wenig Gelegenheit haben, Rumänisch zu benutzen, um es fehlerfrei zu sprechen. Ihre ganze Welt von zu Hause, über die Schule, Ärzte, Verwandte und die Kirche ist nun mal ungarischsprachig. Es gibt ungarische Bibliotheken und Restaurants, öffentliche Dienste, Ämter und Unternehmen akzeptieren und verkehren mit allen in ihrer eigenen Sprache. Die orthodoxe Kirche ist rumänischsprachig, in den anderen Kirchen wird Ungarisch gesprochen und manchmal Deutsch. Die ungarischen Schulen werden genauso staatlich geführt wie die rumänischen.
Das Präsidium der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN) ist in dieser Stadt zusammengekommen, um nach Wegen zu suchen, wie die Situation vieler nationaler Minderheiten verbessert werden kann, da die Europäische Kommission nicht bereit ist, an einer Gesetzgebung zu arbeiten, die die Rechte von Minderheiten in den Status des EU-Rechts erhebt. Und wir wissen, dass diese Grundvoraussetzung gute Bedingungen für die Weitergabe oder sogar die Wiederherstellung einer „lebendigen“ Muttersprache sind.
In dieser rumänischen Stadt können wir Dinge sehen, die polnischen Theoretikern und Politikern unmöglich erscheinen, und doch sind sie Realität: Man kann Bürger eines Landes mit einer völlig anderen Staatssprache sein, mit einer eigenen Kultur und Sprache, man kann dort leben und „ausschließlich“ seine eigene Sprache verwenden. Diese Situation kann vom Staat nicht nur akzeptiert, sondern auch unterstützt werden, man kann ein parlamentarisches System haben, das Sitze für Minderheitenabgeordnete vorsieht, und es kostet keine horrenden Summen, denn Rumänien, das nicht das reichste Land ist, kann sich das leisten. Wichtig ist auch, dass sich keiner der Ungarn dort vorstellen kann, mit seinen Kindern oder Verwandten Rumänisch zu sprechen. Das Wichtigste ist, dass der soziale Frieden dadurch nicht zerstört wird.
Bernard Gaida
Titelfoto: Stadtzentrum von Târgu Mureș (Foto: Oswald Engelhardt/wikimedia.org)