Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Alltag in der Kriegsrealität

Seit den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stehen wir mit Angehörigen der örtlichen deutschen Minderheit in Kontakt. Einer von ihnen ist Alexander Gross, Pastor der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine. Der Geistliche lebt im Süden des Landes, nahe der Millionenstadt Odessa. Wir haben mit ihm über seinen momentanen Alltag gesprochen.

„Die Situation ist viel besser geworden“, sagt Alexander Gross gleich zu Beginn des Telefongesprächs. Wir erreichen ihn am 18. August, also genau 176 Tage nach dem Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine und knapp eine Woche vor dem ukrainischen Nationalfeiertag, dem Tag der Unabhängigkeit am 24. August. Der Geistliche erzählt, dass sich die Lage in und um Odessa im Vergleich zu den ersten Kriegswochen und -monaten merklich beruhigt habe. Tatsächlich steht die gesamte Region weiterhin unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung. Gleichwohl halten russische Truppen nach wie vor weite Teile der nahegelegenen Oblast Cherson besetzt. „Sie werden von unseren Soldaten aber erfolgreich am weiteren Vormarsch gehindert. Wir haben sogar die Hoffnung, dass Cherson in naher Zukunft befreit wird und die Russen noch weiter zurückgedrängt werden“, äußert sich Alexander Gross vorsichtig optimistisch. Auch vom Meer drohe derzeit keine Gefahr. Zudem hätten die ukrainischen Behörden und die Armee das System von Luftschutzbunkern enorm ausgeweitet, und auch die Raketenabwehr arbeite inzwischen äußerst verlässlich.

Angesichts dieser (womöglich trügerischen) Entspannung der Sicherheitslage sind auch zahlreiche der zuvor geflohenen Menschen wieder in die Gegend zurückgekehrt. „In Odessa gibt es schon wieder viel Leben auf den Straßen – und viel Verkehr“, so der Pastor. Die Panzersperren und sonstigen Barrikaden, die aus Angst vor einem russischen Einmarsch in der Stadt errichtet wurden, seien bereits zurückgebaut worden. „Die Menschen gehen davon aus, dass die Russen nicht mehr bis hierher kommen werden“, erklärt Alexander Gross. Er fügt hinzu, dass Luftalarm zwar weiterhin an der Tagesordnung sei, doch dieser werden von den Einwohnern nur noch zur Kenntnis genommen: „Die Leute haben keine große Angst mehr und ignorieren die Warnungen mittlerweile.“ Dass die Gefahr aber auch in Odessa noch nicht vollständig gebannt ist, zeigt ein kürzlicher Raketenangriff auf den Kurort Satoka südlich der Stadt, bei dem gottlob keine Menschen zu Schaden kamen. Alexander Gross nennt diesen Angriff „absolut sinnlos“, denn in dem Badestädtchen am Schwarzen Meer gebe es keinerlei militärische Ziele.

Alexander Gross mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern vor der Wawel-Kathedrale in Krakau
Foto: privat

Die Gemeindearbeit meistern
In dieser immer noch bedrohlichen Kriegsrealität geht der zweifache Familienvater unbeirrt seinen Pflichten als Pastor nach und betreut in der Gegend weiterhin vier Gemeinden. Viele der vormals insgesamt etwa 140 Mitglieder haben die Ukraine aber inzwischen verlassen, vor allem jene aus den Reihen der deutschen Minderheit. „Von meinen deutschstämmigen Gemeindemitgliedern sind fast alle gegangen. Diejenigen, die geblieben sind, haben meist keine deutsche Wurzeln“, erzählt der Geistliche.

Drei seiner Gemeinden befinden sich im Gebiet Odessa, eine im Dorf Smijiwka (Schlangendorf) in der Oblast Cherson. Die dortigen Gläubigen kann Alexander Gross nach wie vor nicht persönlich besuchen. Die Fahrt in das besetzte Gebiet sei immer noch viel zu gefährlich. Zwar seien die Gemeindemitglieder in einem sicheren Teil der Oblast, wo es keine kriegerischen Handlungen gebe; allerdings gestalte sich die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten problematisch. „Außerdem empfangen sie nur noch russische Nachrichten und sind so Tag und Nacht der Kreml-Propaganda ausgesetzt“, so der Pastor.

In den anderen drei Gemeinden (jene auf unbesetztem Gebiet) organisieren er, die daheimgebliebenen Mitglieder und verschiedene Partner, humanitäre Hilfe für die Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine. So leben in den Räumlichkeiten der Kirchengemeinde im Dorf Petrodolynske (Peterstal) derzeit 14 Geflüchtete, denen man zum Teil auch Arbeit vermittelt. „Sie nehmen auch an den Gottesdiensten teil“, sagt Alexander Gross. Auf diese Weise füllen sich die leer gewordenen Kirchenbänke wieder ein wenig, denn allein die Gemeinde in Petrodolynske hat seit dem 24. Februar etwa 70 Prozent ihrer früheren Mitglieder verloren. Darüber hinaus gibt es eine Lebensmittelhilfe für Senioren und Computerkurse für Kinder. Für die Jüngsten wurde kürzlich auch der kirchliche Spielplatz erneuert – auch dank der Spendengelder einer christlichen Organisation aus Deutschland.

In der ehemals deutschen Siedlung Nowohradkiwka (Neuburg) – Alexander Gross‘ Heimatdorf – ist das Gemeindeleben ebenfalls wieder in vollem Gange. In Kürze findet zum Beispiel eine Kinderfreizeit statt; ab September öffnet das Betreuungszentrum für Kinder aus sozialschwachen Familien wieder seine Pforten. Außerdem ist zweimal wöchentlich die Sozialküche in Betrieb. 26 Bedürftige werden hier mit warmen Mahlzeiten versorgt.
Und in Odessa werden in der St.-Paul-Kirche seit Mai jedes Wochenende Konzerte mit klassischer Musik organisiert. Diese bringen die vom Krieg traumatisierten und verängstigten Menschen für ein paar Stunden auf andere Gedanken.

Alexander Gross‘ Gemeinde im Dorf Petrodolynske hat mehrere Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine aufgenommen.
Foto: privat

Reise in die Slowakei und nach Krakau
Im Juli hatte Alexander Gross auch selbst die Möglichkeit, den Schrecken des Krieges in seinem Land für ein paar Tage zu entfliehen. Gemeinsam mit seiner Frau fuhr er in die benachbarte Slowakei, wo er mit dem Bischof des Westbezirks der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in der Slowakei, Ján Hroboň, und einigen Pastorenkollegen zusammentraf und mit ihnen eine vertiefte Zusammenarbeit vereinbarte. Außerdem besuchte er verschiedene kirchliche Einrichtungen, in denen Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht wurden.

Gleichzeitig nutzten Alexander Gross und seine Frau die Gelegenheit, ihre beiden Töchter wiederzusehen, die die Ukraine zu Beginn des Krieges verlassen hatten und seitdem in einem slowakischen Jugendzentrum lebten. Nach fast fünf Monaten Trennung konnte die Familie endlich wieder einige gemeinsame Tage verbringen – inklusive Städtetrip nach Krakau und Wanderausflug in die Hohe Tatra. Inzwischen leben die beiden Mädchen in den Vereinigten Staaten und besuchen dort – dank eines Stipendiums – die Schule beziehungsweise die Universität. „Das ist wunderbar! Ich bin froh, dass sie in Sicherheit sind!“, freut sich Alexander Gross.

Um die Zukunft seines Landes sorgt er sich aber weiterhin – auch wenn er sich sicher ist, dass die Ukraine als Land bestehen bleiben wird. Er merkt an, dass sich das Ansehen Deutschlands unter den Ukrainern angesichts der nunmehr erfolgten Waffenlieferungen in den letzten Wochen leicht verbessert habe – und betont: „Das Material hilft uns dabei, die Russen zu schwächen. Aber leider haben die Lieferungen sehr lange auf sich warten lassen. Diese Zögerlichkeit mussten viele Menschen mit ihrem Leben bezahlen.“

Lucas Netter

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