Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Befreit, aber nicht frei von Not

 

Seit dem 24. Februar stehen wir mit Julia Bogdan aus dem südukrainischen Cherson in Kontakt, berichteten über ihre Erlebnisse in den ersten Kriegstagen, ihre Flucht nach Deutschland und ihren neuen Alltag in München. Wie geht es ihr momentan? Und was hört sie aus ihrer kürzlich von den russischen Besatzern befreiten Heimatstadt?

„Alles ist gut. Ich bin froh, dass meine Familie in Sicherheit ist. Wenn doch nur unser Sieg schneller käme …“, schreibt Julia Bogdan per WhatsApp. Die Deutschlehrerin und Leiterin der Chersoner Jugendorganisation der deutschen Minderheit „Partnerschaft“ hat mittlerweile sogar eine neue Arbeit gefunden: In München ist sie für die Johanniter-Unfall-Hilfe tätig und unterstützt behinderte Flüchtlinge aus der Ukraine beim Meistern ihres neuen Lebens in Deutschland, hilft ihnen bei Behörden- und Arztgängen oder beim Durchdringen der mitunter uferlosen deutschen Bürokratie. „Es freut mich sehr, dass ich meinen Landsleuten in dieser schwierigen Situation helfen kann. Ich bin sozusagen eine Brücke zwischen den Ukrainern und den Deutschen. Und ich liege dem deutschen Staat nicht auf der Tasche, kann dank meiner Anstellung sogar etwas Geld an Freiwilligenorganisationen in der Ukraine schicken“, sagt Julia Bogdan am Telefon.

Ihre beiden Kinder und ihre Mutter, mit denen sie im April aus Cherson in die bayerische Landeshauptstadt floh, sind ebenfalls in guter Verfassung. Die 17-jährige Tochter, erzählt Julia Bogdan, lerne weiterhin fleißig Deutsch und werde in Kürze die B1-Prüfung ablegen. „Parallel studiert sie online an der Nationalen Technischen Universität Cherson. Sie möchte Dolmetscherin werden.“

Der Vierjährigen wurde hingegen noch immer kein Kindergartenplatz zugewiesen. Da Julia Bogdan nunmehr einen 35-Stunden-Job hat, kümmert sich meist ihre Mutter um die Kleine. „Meine Mama hat beschlossen, dass sie sich erst ausruhen wird, wenn meine beiden Töchter geheiratet haben“, sagt Julia Bogdan mit einem Schmunzeln.

Die Gefahr in Cherson ist noch immer allgegenwärtig

Zu Hause in Cherson ist den Menschen hingegen weniger zum Lachen zumute – trotz der kürzlichen Befreiung der Stadt von den russischen Besatzern. Schon seit mehreren Tagen gebe es in der Stadt weder Strom noch fließendes Wasser noch funktioniere die Heizung, berichtet Julia Bogdan, die laufend mit Verwandten, Freunden und Kollegen vor Ort in Kontakt steht. „Die Menschen müssen sich zum Teil aus Pfützen versorgen!“

Noch dazu hätten die russischen Soldaten vor ihrem Abzug zahlreiche städtische Gebäude vermint; jeden Tag gebe es Raketenangriffe. „Und wegen der fehlenden Elektrizität funktionieren die Alarmsysteme nicht!“, klagt Julia Bogdan.

Sie sagt, dass die aktuelle Lage schlimmer sei als zu Zeiten der Besatzung. Unter den Russen habe es wenigstens Strom und geöffnete Geschäfte gegeben. „Aber natürlich wiegen die Freude und die Erleichterung über die Befreiung schwerer. Die Menschen ziehen ein Leben in Freiheit der russischen Sklaverei jederzeit vor – auch unter diesen Bedingungen“, betont Julia Bogdan.

Dass der Krieg Cherson weiterhin im Griff hat, zeigt nicht zuletzt auch ein kürzlicher Raketenangriff, den Julia Bogdans früherer Ehemann, der während der gesamten Besatzungszeit in der Stadt geblieben ist, durchleiden musste: Vor einigen Tagen, am 20. November, habe ihr Ex-Mann sie völlig aufgelöst angerufen – sein Bürogebäude sei vom linken Ufer des Dnipro, das weiterhin von russischen Truppen kontrolliert wird, beschossen worden. Zwar habe es keine direkten Opfer dieser Attacke gegeben, doch der Stress und die Angst hätten beim Chef der dort ansässigen Firma einen Herzinfarkt ausgelöst. „Mein Ex-Mann musste ihn erstversorgen, hat ihm so das Leben gerettet“, sagt Julia Bogdan. Doch alle Anstrengungen seien letztlich umsonst gewesen: Einen Tag später sei der Mann im Krankenhaus an den Folgen des Infarkts gestorben.

Auf der Suche nach deutschen Spionen

Und die Menschen aus den Reihen der deutschen Minderheit in der Region? Wie geht es ihnen? Nur die Älteren seien geblieben, berichtet Julia Bogdan. „Aber sie lassen sich nicht unterkriegen! Im Sommer haben sie sogar ihre traditionelle Seniorenakademie durchgeführt!“

Die Direktorin des „Städtischen Zentrums der deutschen Kultur in Cherson“, Larisa Dvornikova, hat ebenfalls die ganze Zeit über in der Stadt ausgeharrt. „Sie wollte Cherson unter keinen Umständen verlassen“, erklärt Julia Bogdan, die regelmäßig mit ihr telefoniert. „Sie hat mir erzählt, dass das Zentrum während der Besatzungszeit zweimal von russischen Soldaten ‚besucht‘ worden sei. Man sei auf der Suche nach deutschen Spionen gewesen.“

Momentan arbeitet das Zentrum im Onlinemodus. Auch Julia Bogdan ist hier eingebunden: In Kooperation mit dem Goethe-Institut organisiert sie Deutschunterricht und Sprachklubs für ihre Schützlinge, die nun in anderen Teilen der Ukraine, in Deutschland, Österreich, Tschechien oder in Italien leben. „Aber sie identifizieren sich weiterhin als Chersoner und wir versammeln sie alle unter einem gemeinsamen virtuellen Dach“, so Julia Bogdan.

Sie selbst vermisst ihr altes Leben und ihre Heimatstadt jeden Tag. Kurz nach der Befreiung wollte sie für einige Tage über Lwiw nach Cherson zurückkehren, Hilfsgüter ins deutsche Zentrum bringen und einige private Dinge aus ihrer Wohnung holen. Doch der Zugang zur Stadt ist für Zivilisten weiterhin gesperrt – zu gefährlich. Anfang Dezember möchte es Julia Bogdan erneut versuchen.

Lucas Netter
(Stand: 24.11.2022)

 

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