Seit Beginn des Krieges in der Ukraine stehen wir mit Angehörigen der dortigen deutschen Minderheit in Kontakt. Einer von ihnen ist Alexander Gross, Pastor der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine. Der Geistliche lebt im Süden des Landes, nahe der Millionenstadt Odessa. Wie ist dort die derzeitige Situation?
In diesem Krieg kann die Berichterstattung oft nur schwer mit dem Tempo der neuesten Entwicklungen mithalten. Noch am Freitag vergangener Woche (22.04.) erzählte uns Alexander Gross am Telefon, dass die Lage in und um Odessa verhältnismäßig ruhig sei – trotz der relativen Nähe zum weiterhin von russischen Truppen besetzten Cherson. „Wir machen sogar kleine Schritte in Richtung Normalität“, so der Vater zweier Töchter. „Die Menschen haben weniger Angst als zu Beginn des Krieges, viele gehen wieder ins Büro, auf den Baustellen wird gearbeitet, die Geschäfte haben geöffnet und auch alle notwendigen Lebensmittel und sonstigen Produkte sind verfügbar. Im Vergleich zu manchen Regionen im Norden oder Osten des Landes, wo alles zerstört ist, leben wir hier im Paradies.“
Er sagte auch, dass es zwar weiterhin jeden Tag und vor allem in der Nacht mehrmals Luftalarm gebe. „Doch die meisten Menschen ignorieren die Warnungen mittlerweile. Das letzte Mal gab es hier vor drei Wochen einen Raketeneinschlag.“
Nur einen Tag später, am Samstag, wurde dieses neu erlangte Sicherheitsgefühl jedoch schon wieder jäh erschüttert, als die Hafenstadt am Schwarzen Meer abermals das Ziel von russischen Luftangriffen wurde. Nach ukrainischen Angaben verloren dabei mindestens acht Menschen ihr Leben, darunter ein drei Monate altes Mädchen und seine Mutter.
Manche Flüchtlinge kehren trotz allem zurück
Angesichts dieser neuerlichen Bombenattacke stellt sich die Frage, ob der Trend anhalten wird, den Alexander Gross in den letzten zwei Wochen beobachtet hat. Viele Bewohner aus der Gegend, die nach Kriegsbeginn in angrenzende Länder wie Moldau oder Rumänien geflüchtet sind, würden momentan nämlich nach und nach wieder in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren, erzählt er. Und ergänzt: „Anfangs sind viele Menschen von hier geflohen, aber jetzt ist unsere Region selbst das Ziel von Flüchtlingen aus anderen Landesteilen.“ Im Augenblick erwartet er eine Familie aus Mariupol, die er im Kirchenzentrum in Odessa unterbringen möchte. Auch in einer seiner Dorfgemeinden wurde bereits eine Unterkunft für drei Familien bereitgestellt.
Alexander Gross betreut in der Region vier Gemeinden mit insgesamt etwa 140 Mitgliedern. Knapp die Hälfte von ihnen ist die ganze Zeit über in der Ukraine geblieben und nicht ins Ausland geflüchtet. In der vorvergangenen Woche haben die Daheimgebliebenen gemeinsam Ostern gefeiert – wenn auch im weitaus kleineren Rahmen als üblich. „Ich finde, dass unsere Gemeindemitglieder trotz der schwierigen Situation in einem guten Zustand sind“, befindet der Geistliche.
Die Mitglieder seiner Gemeinde in der Oblast Cherson kann er aber nach wie vor nicht persönlich besuchen. Die Fahrt dorthin sei viel zu gefährlich. Wie er erzählt, hätten sich vor Kurzem einige Freiwillige mit Lebensmittellieferungen von Odessa auf den Weg ins etwa 200 Kilometer entfernte Cherson gemacht. Seitdem fehle von diesen Menschen jede Spur. „Wahrscheinlich wurden sie einfach erschossen“, so der Pastor.
Leben in einer neuen Realität
Nun organisiert er den Alltag in der neuen Kriegsrealität. Die Kirchgemeinde hat ihre karitativen Tätigkeiten wie die Lebensmittelhilfe wieder aufgenommen; zweimal wöchentlich ist die Sozialküche in Betrieb. Auch das Kinderzentrum in der ehemals deutschen Siedlung Neuburg (Nowohradkiwka) ist wieder geöffnet. An vier Tagen in der Woche können dort Kinder aus sozialschwachen Familien, die nicht am schulischen Onlineunterricht teilnehmen können, ihre Schul- und Hausaufgaben machen; außerdem bekommen sie hier eine warme Mahlzeit.
Alexander Gross ist weiterhin optimistisch, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Er vermutet aber, dass der Weg zum Sieg noch lang und zäh sein wird. Das heimische Militär mache zwar einen „herausragenden Job“, verteidige jeden Meter und schütze die Bevölkerung so gut es ginge. Allerdings könne man kaum in die Offensive gehen, um die Invasoren aus dem Land zu drängen und die Ukraine zu befreien. Dafür fehle es an Ausrüstung, allem voran an schweren Waffen. Er hofft, dass diese seinem Land baldmöglichst geliefert werden – auch von Deutschland.
Lucas Netter