Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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75 Jahre danach – Wo stehen wir jetzt?

Wo stehen wir in den deutsch-polnischen Beziehungen 75 Jahre nach Endes des Zweiten Weltkriegs? Darüber sprach Marie Baumgarten mit Basil Kerski, dem Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig und Chefredakteur des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG in Berlin.

 

Basil Kierski
Foto: ecs

 

 

Herr Kerski, 75 Jahre nach Kriegsende sagt AfD-Fraktionschef Alexander Gauland, der 8. Mai sei auch ein Tag der absoluten Niederlage, denn er habe große Gebietsverluste für Deutschland nach sich gezogen. Gemeint sind Gebiete, die heute zum größten Teil in Polen liegen. Belasten Aussagen wie diese das deutsch-polnische Verhältnis?

 

Mit ihren geschichtsverzerrenden Relativierungen ist die AfD vor allem eine Belastung für die deutsche Demokratie. Mit seiner jüngsten Aussage zum 8. Mai betonte Alexander Gauland die negativen Folgen des Kriegsendes für die Deutschen, sprach gar vom „Verlust der Gestaltungsmöglichkeit“. Solche Thesen führen direkt in eine Erzählung von Deutschen als einer Opfernation. Das ist unverantwortlich. Die Kapitulation der Deutschen bedeutete vor allem das Ende des sinnlosen Tötens von Menschen in einem von Deutschen initiierten totalen Vernichtungskrieg. Politisch gesehen eröffnete der Zusammenbruch der Nazi-Diktatur für Millionen von (West-)Deutschen die Chance zu einem Neuanfang, der zur Gründung der stabilsten deutschen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland, geführt hat. Dieses demokratische Deutschland hat die deutsch-polnische Nachkriegsgrenze akzeptiert hat, um den Frieden in Europa zu sichern. Politiker, die heute die Demokratie stärken wollen, sollten vor allem die Chancen betonen, die das Ende des NS-Regimes für Deutsche eröffnet hat. Das schafft Vertrauen und stärkt die Beziehungen zu allen Nachbarn, nicht nur zu Polen.

 

 

Noch immer dauert die Debatte um das Denkmal-Projekt zur Erinnerung an die polnischen Opfer der NS-Herrschaft an, das in Berlin entstehen soll. Ideengeber Florian Mausbach – ehemals Präsident des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung – wolle mit den Polen „ein gutes, freundschaftliches Verhältnis“ finden. Haben wir das etwa nicht?

 

Polen und Deutsche leben heute in Frieden. Die absolute Mehrheit in beiden Gesellschaften will ein enges, partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Nachbarn pflegen. So sehen die Beziehungen heute aus. Das ist eine große historische Leistung nach einem Weltkrieg, den die Deutschen als Vernichtungskrieg gegen Polen begonnen haben. Ich verstehe die Berliner Denkmalsinitiative vor allem als eine Investition in die Zukunft. Von Wilhelm von Humboldt stammt der folgende Gedanke: “Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Die Initiatoren des Denkmals kritisieren zu Recht, dass der koloniale Vernichtungscharakter des von Deutschen in Polen geführten Krieges vielen Deutschen heute leider unbekannt ist. Das Denkmal soll das Geschichtsbewusstsein und auch das Verantwortungsgefühl für eine friedliche Nachbarschaft in Deutschland stärken. Das ist nicht nur gut für die deutsch-polnischen Beziehungen, sondern vor allem wichtig für die demokratische Kultur in Deutschland.

 

 

Immer wieder fordern Vertreter der polnischen Regierung Reparationszahlungen für die Schäden des Zweiten Weltkriegs in Polen. Könnte die polnische Regierung durch das Berliner Denkmal-Projekt beschwichtigt werden?

 

Mit dem Berliner Denkmal würden wir nicht nur etwas für das deutsch-polnische Verhältnis tun, sondern vor allem das Geschichtsbewusstsein in der Bundesrepublik stärken. Das steht primär im Vordergrund und nicht etwa ein Versuch, auf aktuelle Stimmungsschwankungen zwischen Regierungen Einfluss zu nehmen. Von Reparationszahlungen ist nichts mehr zu hören. Und das ist gut so. Wir stehen heute vor der Herausforderung, die Pandemie und ihre negativen Folgen für die Wirtschaft zu stoppen. Statt über Reparationen zu diskutieren, sollten Deutsche und Polen heute gemeinsam an einem Wiederaufbauprogramm für Europas Wirtschaft arbeiten.

 

 

Die letzten Umfragen des deutsch-polnischen Barometers zeigen, dass viele Polen noch immer die Deutschen mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs verbinden. Wie können diese Assoziationen überwunden werden?

 

Es war ein deutsches totalitäres Regime, das den Krieg ausgelöst hat. Das sollte auf deutscher Seite niemals vergessen werden. In Polen betone ich aber immer wieder, dass die deutschen Nazis zunächst mit dem Terror gegen Deutsche begonnen haben. Die ersten Opfer der Nazis waren deutsche Juden und deutsche Hitlergegner. Die Erinnerung an deutsche Verbrechen in Polen steht heutigen guten Beziehungen nicht im Weg. Überhaupt ist die Flucht vor der Geschichte keine kluge Methode, die Gegenwart zu gestalten. Ich hatte schon Humboldt zitiert. Historische Kompetenz bietet Orientierung auf dem Weg in die Zukunft.

 

 

Wie beurteilen Sie den Einfluss der Corona-Pandemie auf die deutsch-polnischen Beziehungen? Lernen wir einander wieder mehr schätzen? Ich denke dabei unter anderem an Deutschlands Unverzichtbarkeit auf polnische Fachkräfte im medizinischen Bereich.

 

Viele junge Deutsche und Polen erleben zum ersten Mal, was Grenzkontrollen und geschlossene Grenzen bedeuten. Das kann den positiven Effekt haben, dass die Offenheit Schengen-Europas in Zukunft mehr als bislang geschätzt und nicht als selbstverständlich verstanden wird. Ich hoffe, dass diese Erfahrung unsere europäische Identität stärkt. Ansonsten hat die Corona-Pandemie die politischen Beziehungen belastet. Beide Regierungen haben auf Grenzschließungen gesetzt und damit nationale Alleingänge sowie nationalistische Reflexe legitimiert. Das ist keine kluge Pandemiebekämpfung, aber auch keine gute Nachbarschaftspolitik in Europa. Das ist ein historischer Rückschritt. Vor allem deutsch-polnische Familien, Pendler und Bürger in der Grenzregion, also die stillen Architekten der deutsch-polnischen Partnerschaft, erfuhren die negativen Folgen dieser antieuropäischen Politik der nationalen Isolation.

 

 

Herr Kerski, auch Sie sind Pendler. Wie haben Sie die Zeit der geschlossenen Grenzen erlebt?

 

Diese Zeit der Trennung der Europäer ist leider immer noch nicht vorbei. Für mich ist das ein sehr schwerer Moment, denn ich bin bislang zwischen Berlin und Danzig gependelt. Seit Ausbruch der Pandemie war ich nicht mehr in Berlin. Dort leben nicht nur meine Eltern, sondern auch meine Söhne. Einer von ihnen ist schwer behindert und bedarf meiner Unterstützung, die ich ihm jetzt nicht unmittelbar geben kann. Vor allem behinderte Menschen sind die unbekannten Opfer der Pandemiefolgen. Ich begrüße Maßnahmen, die die Ausbreitung der Pandemie verhindern, aber nationale Alleingänge sind keine effektive Strategie gegen eine globale Krise. Wir brauchen jetzt mehr europäische Intelligenz und Phantasie statt nationalistischer Reflexe.

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