Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Die Gedanken sind frei

Befreiung?

In Deutschland ist es seit einiger Zeit politisch korrekt, die Tage des 8. und 9. Mai als Tage der Befreiung vom Nationalsozialismus zu bezeichnen. Schlesien gehört zu jenen Teilen des damaligen Deutschlands, die den schmerzlichsten Preis für ihre Zugehörigkeit zum nationalsozialistischen Dritten Reich zahlen mussten. Der Einmarsch der Roten Armee mit dem Massenmord an der Zivilbevölkerung, der Vergewaltigung Tausender Frauen und Mädchen, dem Martyrium in den Nachkriegslagern, den Deportation in die UdSSR, der Demontage der Industrieanlagen und schließlich der Potsdamer Konferenz, die die Trennung von Deutschland besiegelte, Vertreibungen, die Entnationalisierung und Diskriminierungen lassen es nicht zu, dass sich die Schlesier und Ermländer als befreit betrachten. Auch die Polen wollen das Jahr 1945 nicht unbedingt als Jahr der Befreiung anerkennen.

Die schleichende Abtrennung der Krim und des Donbass von der Ukraine im Jahr 2014, der bewaffnete Überfall auf das Land im Februar 2022, die Bombardierung von zivilen und energetischen Einrichtungen, die Verminung von Feldern, die Folterung von Kriegsgefangenen und die Verschleppung von Kindern von ihren Familien erinnern an die Zeit, als das Sowjetreich bis zur Elbe reichte. Auch der Krieg in der Ukraine macht es heute in Berlin schwieriger, die Russen als Befreier darzustellen. Das eingeführte Verbot russischer und ukrainischer Flaggen wurde gerichtlich in ein Verbot nur russischer Symbole als Symbole des Aggressors geändert.

Lassen sich diese Überlegungen mit dem 93. Geburtstag des deutschen Schriftstellers aus Gleiwitz, Horst Bienek, verbinden? Er erlebte den Einmarsch der Roten Armee 1945in seiner Heimatstadt, die er noch im selben Jahr verließ, um sich in der Gegend von Bitterfeld niederzulassen, dann in Ost-Berlin, wo er in Bertold Brechts Meisterklasse landete. Dort erlebte er einen Zusammenstoß mit der Mentalität der sowjetischen „Befreier”, als er wegen Antisowjetismus und Spionage für die USA verhaftet wurde. Er wurde zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und kam 1952 in einen Gulag in Workuta jenseits des Polarkreises. Der einflussreiche Bertold Brecht setzte sich nicht für seinen Zögling ein. Dafür aber Konrad Adenauer, der 1955 die Rückkehr der letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen und der nach dem Krieg in der DDR Inhaftierten aus dem Osten ermöglichte.

Bienek wollte nicht nach Berlin oder Schlesien zurück, sondern nach Westdeutschland. Dort schuf er und engagierte sich im deutschen Kulturleben. Er starb 1990 in München. Auf Bitten seiner Schwester Edeltraud wurde er posthum in Russland rehabilitiert. Da kamen bisher geheime Beweise für seine „antisowjetischen” Aktivitäten ans Licht. Vorgeworfen wurde ihm die Bekanntschaft mit einem Überläufer nach West-Berlin, dem Bienek ein öffentlich zugängliches Potsdamer Adressbuch übergeben hatte, der Besitz einer Stalin-Karikatur und eines Exemplars der im Westen erscheinenden Zeitschrift „Stern“. Dafür verurteilten ihn die „Befreier” zu 25 Jahren Zwangsarbeit!

Bernard Gaida

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