Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

„Ich schöpfe aus meinem Erbe“

Mit Kacper Lubiewski aus Lendzin sprach Andrea Polański über seine jüdische Herkunft, das Judentum im heutigen Polen und seine persönlichen Erlebnisse und Gedanken in Verbindung mit seiner Identität.


Wenn man heutzutage über Minderheiten in der Region Oppeln spricht, ist eigentlich nicht mehr von Juden die Rede. Du bist aber in einer jüdische Familie aufgewachsen. Könntest Du uns einen Einblick in Deine Familiengeschichte geben?
Ich bedauere, dass trotz der Tatsache, dass unsere Region für ihre Multikulturalität bekannt ist, die jüdische Kultur nur wenig Erwähnung findet, obwohl gerade diese Gemeinschaft in Oberschlesien viele Jahre lang politisch und wirtschaftlich entscheidend war. Aber zur Sache: Die Familie meiner Mutter, also die jüdische Seite meiner Familie, stammt aus Łomazy bei Biała Podlaska, wo ihr Vater geboren wurde. Mein Großvater hat während des Krieges viel durchgemacht. Er floh aus dem Ghetto Lodz und landete im Lager Auschwitz-Birkenau. Als der Krieg zu Ende war, flüchtete er nach Oppeln, wo er meine Großmutter kennenlernte – ebenfalls Flüchtling aus dem Osten. Mein Großvater hat als einziger seiner Familie den Krieg überlebt – seine Eltern und vier Geschwister wurden ermordet.

Die deutsche Minderheit oder die Lutheraner sind in verschiedenen Organisationen vereint. Hat die jüdische Minderheit auch solche Strukturen?
Natürlich hat sie das! Seit jeher hat sich die jüdische Gemeinschaft in Polen in verschiedenen Formen organisiert. In Polen gibt es 27 aktive Synagogen, die unweigerlich die Zentren sind, in denen sich die Mitglieder der Gemeinde versammeln. Außerdem gibt es acht jüdische Gemeinden, die Gottesdienste veranstalten, Friedhöfe pflegen und an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen. Darüber hinaus gibt es in Warschau und Krakau Jüdische Gemeindezentren, kurz JCCs, die die Gemeinde beleben und Bildungs-, Kultur- und Integrationsaktivitäten durchführen. Im Weiteren gibt es eine Vielzahl jüdischer soziokultureller Gesellschaften oder Organisationen, die sich auf bestimmte Richtungen des Judentums spezialisiert haben, wie z. B. Chabad-Lubawitsch. Ebenso veranstalten mehrere Städte in Polen jüdische Kulturfestivals und in Warschau gibt es ein jüdisches Theater.

Kacper Lubiewski Foto: privat

Wie sieht Dein Engagement bei diesen Organisationen aus?
Ich bin Mitglied des Jugendclubs “Tapuzim” der Krakauer JCC. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern nehme ich an Schabbat-Essen und internen Bildungsaktivitäten teil, organisiere die Geburtstagsfeiern der JCC und arbeite ehrenamtlich in einer jüdischen Hilfsstation für Flüchtlinge aus der Ukraine. Zusammen mit „Tapuzim“ vertrat ich Polen auch auf dem Weltkongress des BBYO, der größten Organisation jüdischer Jugendlicher! Am meisten stolz bin ich jedoch auf meine selbst entwickelten Workshops zum Thema ,,Klima in der jüdischen Kultur und Religion”, die ich u. a. während des Jüdischen Kulturfestivals in Krakau durchführen durfte.

Wie lebt es sich für Dich, als junger Jude, in Polen, in Europa? Ist diese schwere Geschichte des jüdischen Volkes in gewissem Ausmaß eine Belastung für Dich, hat sie Einfluss auf Dein Leben?
Es ist zweifellos bittersüß. In Polen grassiert der Antisemitismus in all seinen verschiedenen Formen. Diejenige auf höchster Regierungsebene hat sich nach dem diplomatischen Konflikt mit Israel besonders intensiviert. Auf der einen Seite haben wir einen absolut standardisierten Antisemitismus in der Sprache und auf der anderen Seite werden bei nationalistischen Aufmärschen Judenpuppen verbrannt. Zusammen mit Faschisten und anderen Extremisten werden die Nationalisten von Jahr zu Jahr stärker und mutiger. Andererseits beinhaltet die jüdische Identität auch eine Menge schöner, sehr alter Kultur! Es gibt viele Traditionen, die Sprache und eine wunderbare Gemeinschaft. Ich schöpfe aus meinem jüdischen Erbe sehr aktiv und lasse mich in meinem Aktivismus und meiner Gemeindearbeit davon inspirieren. Schließlich ist die jüdische Geschichte eine Geschichte des Kampfes für Freiheit und Gerechtigkeit.

Aktuell merkt man in Polen eine Anspannung, gar Diskriminierung gegenüber Minderheiten. Bekommst Du das auch zu spüren?
Ich denke, dass „Anspannung” eine Untertreibung ist. Im heutigen Polen werden Minderheitengruppen aktiv angegriffen und entmenschlicht; sie leben in Gefahr. Nach dem römischen Prinzip „teile und herrsche” bringt die derzeitige Regierung eine Minderheitengruppe nach der anderen gegeneinander auf und verletzt deren Rechte. Es begann mit nicht-heteronormativen Menschen, dann mit Aktivisten, dann mit Frauen. Vor Kurzem haben wir einen Angriff auf die Kultur der deutschen Minderheit erlebt. Die Toleranzgrenze für Diskriminierung wird ständig verschoben und als Jude reagiere ich sehr empfindlich auf die kleinste Verschiebung dieser Grenze.

Schlesien war jahrzehntelang eine Region, die sich durch ihre kulturelle Vielfalt auszeichnete. Ist solche Vielfalt manchen ein Dorn im Auge? Wie siehst Du das?
Die Wahrheit ist, dass die Machthaber nicht an echter Vielfalt interessiert sind, sondern nur an dieser oberflächlichen, akzeptablen Vielfalt. Sie interessieren sich nicht für die Stimme der polnischen Juden, ihre Bedürfnisse und die Signale des wachsenden Antisemitismus, sondern nur für die Aufrechterhaltung eines falschen Bildes von Polen als historisches Paradies für Juden. Wie ich bereits sagte, steht das Anderssein im heutigen Polen nicht unter Schutz, sondern in Gefahr.

Findest Du als junger Mensch es wichtig, über Themen wie Vielfalt, Identität, aber auch Vergangenheit und Geschichte zu sprechen? Vielleicht nicht nur im Sinne der Geschichte des Judentums, aber auch allgemein.
Ja, natürlich! Die Geschichte ist ein großer Lehrer und Inspirator. Sie ermöglicht uns, Muster und Analogien zu erkennen, aber auch, aus diesen Mustern auszubrechen. Ohne die Geschichte hätten die Juden die Tragödien, die ihnen zugefügt wurden, wahrscheinlich nie überlebt. Nur die Geschichte hat es geschafft, sie so wirksam zu vereinen und sie von einer besseren Zukunft träumen zu lassen.

Show More