Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Der Fall Gleiwitz

Wir alle haben im Schulunterricht von dem Überfall auf den Radiosender Gleiwitz gehört. Doch in den Geschichtsbüchern ist er oft nur eine Randnotiz: Dabei markiert die fingierte Aktion, die Adolf Hitler 1939 als Vorwand für den Angriff auf Polen dienen sollte, symbolisch den Beginn des Zweiten Weltkrieges.

An der Stelle, wo sich die geheime Aktion der SS vor genau 80 Jahren zugetragen hat, informiert heute in authentischem Gewand ein Museum über all das, was wir in der Schule nicht gelernt haben.

 

 

Stolz und anmutig steht er da und zieht schon von Weitem alle Blicke auf sich. Den 235 Meter hohen Funkturm des Radiosenders Gleiwitz nennen die Einwohner den Eiffelturm ihrer Stadt – und tatsächlich drängt sich der Vergleich mit dem Pariser Wahrzeichen förmlich auf. Dass das Gleiwitzer Exemplar aus Holz erbaut ist, fällt erst auf, wenn man ihm schon ganz nahe ist. Anfassen kann man ihn aber nicht, auch nicht besteigen. Eine Absperrung schützt vor neugierigen Besuchern, immerhin verrichtet der 1935 erbaute Mast noch immer fleißig seine Arbeit. Der Ort, der durch den fingierten Überfall auf den Radiosender traurige Berühmtheit erlangt, ist kein Touristenmagnet. Aber die, die kommen, kommen nicht selten von weither: aus Asien, den USA, aus Skandinavien. Aber auch viele Deutsche zieht es hierher, die Stadt hat sich mittlerweile darauf eingestellt. In rund 250 Meter Entfernung vom Sendemast hat die ehemalige Sendestation, die am 31. August 1939 von der SS besetzt wurde, von montags bis sonntags ihre Türen geöffnet.

 

Das Museum: Kein Schnick-Schnack

Seit dem Jahr 2005 gibt es hier ein Museum, das sich zugleich als Gedenkstätte versteht. Von außen macht das denkmalgeschützte Gebäude einen unscheinbaren Eindruck. Wer von dem Museum nichts weiß, dem kann es passieren, dass er daran vorbei geht. In dem kleinen Saal befinden sich bis heute das alte Funkgerät, die Sendeanlage und die Lautsprecher, die zum Teil aus Warschau zurück an ihren alten Platz gebracht worden sind. Ein Stück Geschichte zum Anfassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Den Ein- und Aus-Knopf drücken, Regler hoch und herunterfahren und in das Mikrofon sprechen sind ausdrücklich erlaubt. Dafür verzichtet man auf Audioguides, Multimedia, Apps und alles andere, was davon ablenkt, das, was sich an diesem Ort zugetragen hat und was dies in der Folge auslöste, unmittelbar auf sich wirken zu lassen. Ein sehr sympathisch authentischer Umgang mit diesem schwarzen Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte.

Wer allerdings darauf Wert legt, sich einen eigens zur Vorführung im Gleiwitzer Museum entstandenen Dokumentationsfilm anzusehen, der die Hintergründe des Überfalls beleuchtet, hat dazu im Nebenraum die Möglichkeit. „Oft sagen die Menschen, wenn sie unser Museum wieder verlassen: Das war sehr aufschlussreich und anders, als ich es in der Schule gelernt habe“, sagt der Gleiwitzer Historker Kamil Kartasiński, der seit zwei Jahren die ehemalige Sendestation betreut. Der 27- Jährige – groß, schlank, kurzes braunes Haar und mit Brille – kommt mit seiner ungekünstelten Art und dem aufrichtigen Interesse an der Geschichte des Ortes schnell mit den Touristen ins Gespräch. „Viele Menschen fragen mich, ob hier an diesem Ort der Zweite Weltkrieg begonnen hat. Faktisch sage ich nein. Das waren die Kampfhandlungen auf der Westerplatte in Danzig am 1. September um 4.45 Uhr. Ich sage aber, symbolisch hat der Krieg hier begonnen.“

 

Der Plan: Heydrichs Meisterstück

1939, Hitler will den Krieg. Und das um jeden Preis. Er will Polen angreifen, braucht dafür aber einen Vorwand. „Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht“, sagt Hitler siegesgewiss auf dem Obersalzberg nur wenige Tage vor Kriegsbeginn. Den Auftrag, die entsprechenden Aktionen zu organisieren, bekommt SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, der große Ambitionen hat und ein geheimdienstliches Meisterstück vollbringen will. Sein Plan: Einen Anschlag auf die Radiostation Gleiwitz vortäuschen und es so erscheinen lassen, als wären Polen die Angreifer gewesen. „Warum sie den Radiosender als Ziel ausgewählt haben? Blicken wir einmal 80 Jahre zurück: Das Internet gab es noch lange nicht, das Fernsehen steckte noch in den Kinderschuhen und das wichtigste Medium war das Radio. Wer darüber die Macht hatte, hatte die Kontrolle über die Menschen“, sagt Kartasiński.

Doch das ist nicht der einzige Grund: Seit dem Jahr 1921 ist die Stadt Gleiwitz Grenzstadt. Nach den schlesischen Aufständen 1919 bis 1921 musste die Bevölkerung von Gleiwitz bei der Volksabstimmung im März 1921 entscheiden, ob sie zu Polen oder zu Deutschland gehören wollte. Fast 80 Prozent stimmten für einen Verbleib bei Deutschland. Viele andere Städte des oberschlesischen Industriegebiets wurden aber polnisch. Die Grenzregion mit ihrer gemischten Bevölkerung war für die SS eine ideale Angriffsfläche. Hier kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Deutschen und Polen. Viele Menschen fürchteten, diese Konflikte könnten mit Waffengewalt ausgetragen werden. Es lag daher nahe, einen besonders schweren Zwischenfall zu inszenieren, um einen Kriegsgrund zu haben.

Für die Ausführung des streng geheimen Plans holt Heydrich den SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks ins Boot, der seit 1937 den Auslandsnachrichtendienst des Sicherheitsdienstes (SD) leitet und unter anderem falsche Pässe und Banknoten für Agenten des SD im Ausland beschafft. Mit kleinen und großen Gaunereien kennt er sich also aus. „Das meiste, was wir heute über diesen Teil der Geschichte wissen, wissen wir von Naujocks. In den Nachkriegsverhören 1945 hat er in einer eidesstattlichen Erklärung bis ins Detail dargelegt, wer die Anweisungen geben hat, wie der Plan umgesetzt wurde. Später hat er seine Kriegsgeschichten auch an die Presse im In- und Ausland verkauft und kam damit sogar zu unverdientem Ruhm“, erklärt Kartasiński.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Umsetzung: Großmutter gestorben

Alfred Naujocks quartiert sich bereits Mitte August 1939 in das renommierte Hotel „Haus Oberschlesien“ ein – heute das Gleiwitzer Stadtamt – um die Umgebung auszukundschaften und die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Am Nachmittag des 31. August kommt ein Anruf aus Berlin. Heydrich persönlich ist am Apparat und gibt mit dem Kennwort „Großmutter gestorben“ den Befehl, noch an diesem Abend zuzuschlagen. Gegen 20.00 Uhr stürmen die SS-Leute den Reichssender Gleiwitz und haben sogar eine Leiche dabei. Der Landmaschinenvertreter Franz Honiok, als “polenfreundlich” bekannt, ist am Vortag entführt und ermordet worden. Einzig um einen Angriff durch Polen glaubwürdiger zu machen, musste er sterben. Er gilt als der erste Tote des Zweiten Weltkrieges. „Es gibt viele Erzählungen rund um den Überfall. Zum Beispiel, dass die SS-Männer polnische Uniformen getragen haben, ein Übersetzungsfehler aus den Nachkriegsprozessen. Gleiwitz war eine Garnisonsstadt, mit polnischen Uniformen wären sie auf der Stelle erschossen worden. Sie trugen einfache Zivilkleidung“, sagt Kartasiński.
Unter den SS-Männern befinden sich Volksdeutsche, die Polnisch so gut beherrschen wie deutsch. Ihre Aufgabe ist es, das laufende Programm zu unterbrechen und mit einem Aufruf die Schlesier dazu aufzufordern, sich gegen die Germanisierung Oberschlesiens zu wehren.

 

Die Panne: In den Äther gefunkt

In Berlin sitzt Heydrich gebannt vor dem Volksempfänger, um die Meldung aus Gleiwitz zu vernehmen. Doch seinen Leuten unterläuft eine peinliche Panne. Die Radiostation, die die SS stürmt, dient nur als Verstärkerstation des Hauptsenders, der sich vier Kilometer entfernt befindet, und sendet lediglich das Programm aus Breslau. „Das war eine böse Überraschung für die Deutschen. Denn es stellte sich heraus, dass es überhaupt kein Mikrofon gab. Das befand sich in dem anderen Radiosender“, sagt Kamil Kartasiński und kann sich ein Lachen nicht verkneifen.

Naujocks und seine Leute suchen sich heiß, um die Sendung durchzubekommen. Der Rundfunkspezialist des Kommandos findet ein „Gewittermikrophon“ im Geräteschrank. Mit diesem Mikrofonanschluss kann die Sendeleitung über die örtliche Frequenz mitteilen, dass eine Sendung – etwa bei Gewitter – gestört ist. Die vorbereitete Rede wird verlesen und endet mit dem Aufruf: Hoch lebe Polen! „Von der knapp vierminütigen Rede wurden wahrscheinlich nur die ersten zwei Sätze übertragen: Achtung, hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand“, so Kartasiński. Heydrich ist sauer. Die Meldung hat das Reichsgebiet nicht erreicht. Und selbst in Gleiwitz und Umgebung ist der größte Teil der Sendung im Äther verpufft.

 

Die Propaganda: Späte Zersetzung

Die mächtige Propagandamaschinerie lässt sich von dem unliebsamen Missgeschick aber nicht aufhalten. Die Zeitungen schreiben: „Ein polnischer Stoßtrupp, der die Reichsgrenze überschreitet und bis zum Sender Gleiwitz vordringt und unter vorgehaltener Pistole den Zugang zum Mikrofon erzwingt, um über einen deutschen Sender Kriegsaufrufe zu sprechen, das ist zu viel… Das Großdeutsche Reich kann diese Übergriffe nun nicht mehr hinnehmen.“
Am 1. September 1939 erklärt Adolf Hitler vor dem Reichstag, dass sich Deutschland im Krieg befindet: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr (eigentlich 4.45 Uhr) wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“ Dass die Aktion von den Nazis fingiert ist, zweifelt zu dieser Zeit im In-und Ausland kaum jemand an.
Und trotzdem glauben bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts viele Menschen in Oberschlesien, aber auch in der BRD und DDR, dass tatsächlich polnische Aufständische den Gleiwitzer Sender gestürmt haben. Erst die neuen Publikationen jener Zeit, die das Thema wieder aufrollen sowie der DEFA-Film „Der Fall Gleiwitz“ von 1961, der den von den Nazis geplanten Überfall minutiös rekonstruiert, klären erstmals öffentlichkeitswirksam auf. Erst jetzt zersetzt sich die Lüge allmählich. „Seitdem ich hier arbeite, mache ich mir viele Gedanken über die Macht der Medien“, sagt Kartasińsk. „Für mich ist der Überfall auf den Radiosender Gleiwitz die erste „Fakenew“, die von den Medien groß gemacht wurde. Hätte es keine Medien gegeben, wäre alles vielleicht ganz anders ausgegangen. Denn die Aktion selbst haben die Nazis auf ganzer Linie vermasselt.“

 

 

Marie Baumgarten

 

 

Das Museum steht Besuchern dienstags bis freitags von 10.00 bis 16.00 Uhr offen. Am Wochenende von 11.00 bis 16.00 Uhr, in den Sommermonaten bis 17.00 Uhr. Am 31. August findet ab 14.00 Uhr im Gleiwitzer Museum eine Gedenkveranstaltung mit geschichtlichen Diskussionen statt. Mehr unter: muzeum.gliwice.pl

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