Lange Zeit galt die Sammlung als verschollen – nun kamen große Teile des so genannten „Wiesbadener Nachlasses“ in das Goethe-Museum nach Frankfurt, wo bis 2019 ein Romantik-Museum entstehen soll. Die abenteuerliche Geschichte von Hunderten von Handschriften und Dokumenten Eichendorffs findet ihren Abschluss.
Voller Stolz präsentierte am 15. März das Freie Deutsche Hochstift, der Träger des Goethe-Museums in Frankfurt, die Neuerwerbung des Hauses. Es handelt sich um 218 handschriftliche Doppel- und 100 Einzelblätter, die aus dem sogenannten „Wiesbadener Nachlass“ stammen. „Die Wissenschaft erhofft sich ergiebige frische Quellen für die Eichendorff-Forschung. Der Teilnachlass Eichendorffs wirft Schlaglichter auf ein bewegtes Leben zwischen Kampf in den Befreiungskriegen, romantischer Dichtkunst, Familienglück und -leid und preußischem Ministerialdienst. Zu dem Konvolut gehören Manuskriptseiten bekannter Werke wie „Das Marmorbild“, Briefe von und an Eichendorff sowie persönliche Notizen und amtliche Zeugnisse“, so die Hochstift-Sprecherin Beatrix Humpert. Unter den Neuerwerbungen soll sich u.a. auch ein noch unbekannter Brief Eichendorffs an Brentano befinden.
Aufteilung des Eichendorffnachlasses
Nach Eichendorffs Tod hatten seine drei Kinder Hermann, Rudolf und Therese seinen Nachlass aufgeteilt, nachdem Hermann zuvor einiges aus dessen literarischem Nachlass veröffentlicht hatte. Thereses Teil kam gegen Ende des 19. Jahrhunderts an die Königliche Bibliothek in Berlin (heute Staatsbibliothek). Hermanns Teil ging an dessen Sohn Karl (1863-1934) über. Da Karl Freiherr von Eichendorff gegen Ende seines Lebens in Wiesbaden lebte, wird dieser Nachlass als der „Wiesbadener Nachlass“ bezeichnet. Karl gelang es, den Bestand um den so genannten „Sedlnitzer Fund“ zu erweitern, eine Autographensammlung, die 1920 im ehemaligen Familiensitz der Eichendorffs in Sedlnitz (Sedlice) in Mähren entdeckt wurde. Wie sich herausstellte, handelte sich um den Teil des Nachlasses, den Rudolf erhalten hatte.
Gedichtentwürfe und Eichendorffiana
Als erster der Nachfahren Eichendorffs betrieb Karl Forschungen über das Leben und Werk des bedeutendsten Dichters der Spätromantik. Einerseits forschte er nach seinen Vorfahren der Eichendorff-Linie und schrieb Archive in Brandenburg, Böhmen, Mähren und Schlesien an. Anderseits sammelte er auch Entwürfe und Notizen seines Großvaters, aber auch Aufzeichnungen und Korrespondenz des Dichters und seiner Nachkommen, Urkunden usw.
An Hand der Aufzeichnungen zu Gedichtentwürfen können wir heute die Arbeitsschritte des Dichters nachvollziehen und stellen fest, dass die Sprachkunstwerke Eichendorffs keine Eingebung war, die dem Dichter locker von der Hand ging, sondern eine harte schriftstellerische Arbeit. Die Erwerbungen des Goethe-Museums wären ein echter wissenschaftlicher Schatz, wie Bettina Zimmermann von der Handschriftenabteilung bestätigt.
Wiesbadener Nachlass nach Neisse
Zusammen mit dem Herausgeber und Verleger Karl Schodrok, dem Philosophen Adolf Dyroff und dem Literatur- und Theaterhistoriker Wilhelm Kosch begründete Karl Freiherr von Eichendorff 1913 die Eichendorff-Gesellschaft in Gleiwitz. Seit 1929 wirkte er bei der Herausgabe der Jahreszeitschrift „Aurora“ mit. Nach seinem Tod kam sein Nachlass 1935 in Eichendorffs Sterbehaus in Neisse (Nysa), wo das „Deutsche Eichendorff-Museum“ eingerichtet wurde. Als kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges die Rote Armee immer näher rückte, entschied der Leiter des Museums Willibald Köhler (1886-1976), den Nachlass Eichendorffs nach Schwaben auszulagern, woher sein Freund, der Oppelner Buchhändler Carl Ritter, herstammte. Doch die in Eichentruhen umständlich verpackten Manuskripte und andere Exponate behinderten die Flucht – so entschied Köhler, die Truhen bei Bekannten in einem Gasthof in Thomasdorf im Altvatergebirge (Bělá pod Pradědem), ca. 40 km südlich von Neisse, zu deponieren, um sie später abzuholen. Doch dazu kam es nicht mehr – über seine Freunde erfuhr Köhler, dass die Truhen aus dem Keller des Gasthofs verschwanden und vermutlich für immer verloren gingen.
Auftauchen neuer Manuskripte
Nach den Kriegs- und Vertreibungswirren entstand in Wangen im Allgäu ein geistiges Zentrum für schlesische Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, die 1950 den „Wangener Kreis“ gründeten. Willibald Köhler, der zu den Mitbegründern des Wangener Kreises gehörte, begann nach dem Neisser Vorbild ein neues Eichendorffmuseum zu errichten; das Vorhaben unterstützte die Stadt Wangen großzügig. Als 1955 in einem Prager Antiquariat Eichendorffs Jugendtagebuch auftauchte, wurde Köhler klar, dass nicht der gesamte Wiesbadener Nachlass zerstört wurde. Dieses Tagebuch wurde dann als Geschenk des tschechoslowakischen Staates dem Bruderstaat DDR, und zwar dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, übergeben. Nachdem weitere Einzelmanuskripte Eichendorffs auftauchten, wurde zu Beginn der 70er-Jahre Sybille von Steinsdorff (in ihrer Funktion als Redakteurin der Münchner Eichendorff-Arbeitsstelle) mit den Handschriftenrecherchen beauftragt, um Hinweisen auf Eichendorffhandschriften u.a. in Jauernig (Javorník) nachzugehen. „Dank ihrer nach und nach geknüpften Kontakte zu den örtlichen Archiven wurde letztlich der Archivalientauschvertrag zwischen der ČSSR und der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1987 abgeschlossen, bei dem die Bestände des Bezirksarchivs Mährisch-Schönau (Šumperk) in den Besitz der Bundesrepublik gelangten und dann als Dauerleihgaben der Bundesrepublik von der Eichendorff-Gesellschaft (mit Sitz in Ratingen) verwahrt wurden“, bestätigt Prof. Ursula Regener (Universität Regensburg).
Weitere Aufkäufe
Darüber hinaus habe es seit den 90er-Jahren weitere Handschriftenfunde und Transfers gegeben, in die Sibylle von Steinsdorff involviert war, so Prof. Regener weiter. Sie habe als Ansprechpartnerin vieles vorfinanziert und die Autographen nach und nach ans Freie Deutsche Hochstift oder die Eichendorff-Gesellschaft weitergegeben, zuletzt 2009 drei Gedichthandschriften aus dem Sedlnitzer-Fund (2013 von Renate Moering veröffentlicht).
Den wohl kompletten Rest, darunter zwölf wichtige Desiderate aus dem Wiesbadener Nachlass und viele Eichendorffiana hatte von Steinsdorff 2014 über einen Antiquar dem Freien Deutschen Hochstift angeboten. Da die Finanzierung durch die Kulturstiftung der Länder, das Land Hessen und Thyssen jedoch länger andauerte, konnte der Ankauf erst jetzt vollzogen werden. Doch das konnte Sibylle von Steinsdorff nicht mehr erleben, denn sie verstarb am 18. Februar 2016.
Johannes Rasim