Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Die europäische Identität ist mehrsprachig“

Vergangene Woche (24.-26.05.) fand an der Staatlichen Akademie für Angewandte Wissenschaften in Neisse (Państwowa Akademia Nauk Stosowanych w Nysie) die 9. Tagung des internationalen Konsortiums „Mehrsprachigkeit als Chance“ statt. Im Zentrum des Austauschs und der wissenschaftlichen Vorträge stand diesmal das Thema „Sprachen und Sprachenbildung im gesellschaftlichen Wandel“. Darüber hinaus erhielten die angereisten Linguisten aus verschiedenen europäischen Ländern auch einen Einblick in die Strukturen der deutschen Minderheit in Polen.

Eröffnet wurde die Fachtagung, die nach 2010 und 2015 bereits zum dritten Mal in Neisse stattfand, von Prof. Dr. Przemysław Malinowski, dem Rektor der örtlichen Fachhochschule. Ein einleitendes Grußwort sprach zudem die Dekanin der Fakultät für moderne Sprachen, Prof. Dr. Alina Dittmann – die bei dieser Gelegenheit auch das Ziel des internationalen Konsortiums „Mehrsprachigkeit als Chance“ unterstrich: die Popularisierung gelebter Mehrsprachigkeit von Menschen in mehrsprachigen Regionen und mehrsprachigen Lebenswelten.

Prof. Dr. Przemysław Malinowski, der Rektor der Fachhochschule in Neisse, eröffnete die Tagung. Am Podium neben ihm: Prof. Dr. Monika Witt, Germanistin an der Fakultät für moderne Sprachen.
Foto: Lucas Netter

So haben sich im Rahmen ebenjenes Konsortiums verschiedene europäische Bildungseinrichtungen zusammengeschlossen, um den Aspekt der Mehrsprachigkeit im Bildungskontext positiv hervorzuheben. Seine Mitglieder stammen dabei aus mehrsprachigen Regionen in Polen, Deutschland, Belgien, Finnland, Österreich und der Schweiz. Mit dabei ist zum Beispiel Prof. Mag. Magdalena Angerer-Pitschko, die Leiterin des Instituts für Mehrsprachigkeit und Transkulturelle Bildung der Pädagogischen Hochschule Kärnten – Viktor Frankl Hochschule in Klagenfurt am Wörthersee im Süden Österreichs. „Wir sehen die Mehr- und Vielsprachigkeit als Bereicherung. Denn die europäische Identität ist eine mehrsprachige Identität und keine einsprachige“, so die Wissenschaftlerin.

Prof. Mag. Magdalena Angerer-Pitschko
Foto: Lucas Netter

Auch Prof. Dr. Monika Witt, Germanistin an der Fakultät für moderne Sprachen der Hochschule in Neisse und damit Gastgeberin der diesjährigen Auflage der Tagungsreihe, hebt hervor: „Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass die Sprachenvielfalt sehr wichtig ist, dass auch die kleinen Sprachen wichtig sind, dass es wichtig ist zuzuhören, dass es wichtig ist, diese Sprachen zu sprechen, dass es wichtig ist, so zu unterrichten und die Sprachpolitik so zu gestalten, dass diese kleinen Sprachen auch zur Sprache kommen.“

Prof. Dr. Monika Witt spricht zu den Teilnehmern der Fachtagung.
Foto: Lucas Netter
Die Vorsitzende des Konsortiums „Mehrsprachigkeit als Chance“, Martha Orban-Kerst, von der Autonomen Hochschule Ostbelgien in Eupen
Foto: Lucas Netter

Probleme mit der ethnolinguistischen Vitalität

Den Anfang beim inhaltlichen Teil der Tagung machte Prof. Dr. Tomasz Wicherkiewicz von der Abteilung für Sprachpolitik und Minderheitenforschung der Adam-Mickiewicz-Universität Posen – „der Mann für die kleinen und seltenen Sprachen in Polen“, wie ihn Monika Witt dem Publikum vorstellte – mit seinem Vortrag unter dem Titel „Vielfalt trotz scheinbarer Einheitlichkeit – Polens Sprach(varietät)en und ihre ethnolinguistische Vitalität“.

Prof. Dr. Tomasz Wicherkiewicz während seines Vortrages
Foto: Lucas Netter

In seinen Ausführungen zeigte der Professor für Linguistik, Sprachwissenschaft und Soziolinguistik unter anderem auf, dass das Überleben einer Gruppe, die durch eine gemeinsame Sprache und kulturelle Identität vereint ist, durch die intergenerationelle Weitergabe der Sprache, institutionelles und organisatorisches Leben, gruppeninterne Anleihen sowie eine emotionale Bindung an die Sprache bedingt werde. Diese ethnolinguistische Vitalität hänge nicht von der Anzahl der Sprecher ab, „sondern von deren Spracheinstellungen, die darüber entscheiden, ob eine Person die Sprache spricht oder sie ablehnt“, erklärte Tomasz Wicherkiewicz – und fügte hinzu: „Die deutsche Minderheit als die größte nationale Minderheit in Polen hat Probleme mit der generationsübergreifenden Weitergabe ihrer Sprache.“ Deswegen sei bei ihr die Rolle der Schule noch wichtiger als bei den anderen Minderheiten, bei denen die intergenerationelle Weitergabe der Sprache in der Vergangenheit nicht so erschwert wurde.

Prof. Dr. Tomasz Wicherkiewicz im Gespräch mit einigen Teilnehmerinnen der Tagung
Foto: Lucas Netter

Exkursion nach Oppeln

Neben zahlreichen weiteren Vorträgen, unter anderem zum Forschungsgebiet des sogenannten Linguistic Landscape („Sprachlandschaft“), zur Mehrsprachigkeitsdidaktik sowie zur Gegenwart und Zukunft des Deutschunterrichts in der Region Nysa, stand auch eine Exkursion nach Oppeln zu den Institutionen der deutschen Minderheit auf dem Programm der Tagung.

Dem Konsortium „Mehrsprachigkeit als Chance“ gehören Mitglieder aus Polen, Deutschland, Österreich, Belgien, Finnland und der Schweiz an.
Foto: Lucas Netter

„Es ist uns ein großes Anliegen, dass wir nicht nur referieren, sondern dass wir auch die Region kennenlernen, in der wir uns befinden“, betont Monika Witt. Sie unterstreicht, dass die Hochschule in Neisse polenweit die einzige sei, die neben der Ausbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache auch die Ausbildung von Lehrkräften für Deutsch als Minderheitensprache anbietet. „Natürlich arbeiten wir in diesem Bereich eng mit den verschiedenen Einrichtungen der deutschen Minderheit in Oppeln zusammen. Unsere Partnerinstitution ist das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit, wir sind aber auch mit vielen anderen Organisationen in ständigem Kontakt. Die Teilnehmer der Tagung werden erfahren, wie wir hier zusammenarbeiten und wie der Unterricht der deutschen Sprache in unserer Region gefördert und unterstützt wird“, so die Germanistin.

Einige Germanistik-Studierende der Universität Oppeln nahmen ebenfalls an der Tagung in Neisse teil.
Foto: Lucas Netter

In diesem Sinne besuchten die internationalen Gäste in Oppeln das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit (HDPZ), das Jugendzentrum, wo sie das Projekt „LernRAUM.pl“ kennenlernten, sowie den Bund der Jugend der Deutschen Minderheit (BJDM) und die Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien (SKGD). Nicht zuletzt stand auch eine Führung durch das Dokumentations- und Ausstellungszentrum der Deutschen in Polen auf der Agenda.

Die Teilnehmer der Tagung lauschen den Vorträgen.
Foto: Lucas Netter

Konkrete Auswirkungen der Diskriminierung

Die anhaltende Diskriminierung der deutschen Minderheit in Polen ist den Teilnehmern bei alledem natürlich nicht verborgen geblieben. „Der Prozess der Einschränkung der Rechte der deutschen Minderheit, ihre Sprache zu lernen, ist Teil der umfassenden Veränderungen, die in Polen in den letzten Jahren stattgefunden haben“, hatte Tomasz Wicherkiewicz schon während seines Vortrages erklärt. Später sagte er noch: „Die Kinder der deutschen Minderheit sind Geiseln dieser deutschlandfeindlichen Politik. Das ist meiner Meinung nach inakzeptabel.“

Auch eine Stadtführung durch Neisse stand auf dem Programm der Tagung.
Foto: Lucas Netter
Der Stadtführer zeigt den internationalen Gästen die Sehenswürdigkeiten von Neisse.
Foto: Lucas Netter

Die problematische Situation hat dabei auch ganz konkrete Auswirkungen auf den Studienalltag in Neisse, wie Monika Witt darlegt: „Die Kürzung der Unterrichtsstunden führt auch bei uns zu Problemen, zum Beispiel hinsichtlich der Organisation von Studienpraktika. Und vor allem ist das Ganze für die Motivation der Studierenden natürlich nicht besonders förderlich.“

Prof. Dr. Vincenzo Todisco von der Pädagogischen Hochschule Graubünden in Chur (Schweiz)
Foto: Lucas Netter

Trotz dieser schwierigen Lage bleibt Monika Witt optimistisch. Sie erzählt von einer Samstagsschule, die ihre Fakultät für jene Kinder eröffnet habe, die mit den Studierenden Deutsch als Muttersprache lernen möchten. Und sie sagt: „Ich hoffe, dass die jetzige Situation nicht ewig dauern wird. Und dennoch haben die Studierenden dieses Bewusstsein: ‚Wir arbeiten für eine sinnvolle Sache, wir setzen uns durch, trotz der Schwierigkeiten.‘ Es ist ein schönes Bewusstsein.“

Lucas Netter

Die Tagung in Neisse wurde finanziell unterstützt von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit. Assoziierte Partner waren unter anderem das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit (HDPZ), der Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG), das Forschungszentrum der Deutschen Minderheit, das Dokumentations- und Ausstellungszentrum der Deutschen in Polen sowie das „Wochenblatt.pl“.

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