Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Die Gedanken sind frei

Schwächung der Dissonanz

Vor einigen Tagen hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen revolutionären Schritt getan. Er beschuldigte den amtierenden russischen Präsidenten der Kriegsverbrechen und erließ einen Haftbefehl gegen ihn. Eine Anordnung, die mehr als 120 Länder der Welt rechtlich verpflichtet, Wladimir Putin zu verhaften, wenn er in ihren Zuständigkeitsbereich kommt. Und obwohl es zweifelhaft erscheint, dass er vor Gericht gestellt wird, wenn die Russen ihn nicht selbst ausliefern, darf die Bedeutung dieser Entscheidung nicht unterschätzt werden.

Ihre symbolische Dimension ist enorm. Denn von nun an beginnen russische Politiker und Militärs zu verstehen, dass Kriegsverbrecher nicht erst nach dem Ende von Kriegen oder Konflikten verfolgt werden können, sondern dass sie bereits währenddessen bestraft werden können. Und das bedeutet, dass ihre Verbrechen unabhängig vom Ausgang des Krieges verfolgt werden.

Seit Jahrhunderten galt, dass die Sieger nicht verurteilt werden. Nur die Besiegten haben für ihre Verbrechen bezahlt. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg hat nur die Militärs und Politiker des Dritten Reiches verurteilt. Die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen auf britischer, amerikanischer und sowjetischer Seite wurden nie belangt. Doch die Bombardierung der Einwohner Dresdens und der dort Schutz suchenden Flüchtlinge, die Vergewaltigung deutscher Frauen, die Erschießung der Einwohner von Miechowitz bei Beuthen oder Nemmersdorf in Ostpreußen, das Ertrinken von Frauen und Kindern infolge der Bombardierung der zugefrorenen Danziger Bucht, die ihnen als Fluchtweg diente, sind nur einige der nicht verfolgten Kriegsverbrechen der Sieger. Und was ist mit der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki, den Verbrechen des Vietnamkrieges? Und schließlich der Krieg in Afghanistan? Der Haftbefehl gegen Putin und die russische Ombudsfrau für Kinderrechte Maria Lvova-Belova betrifft das Kriegsverbrechen der Zwangsverschleppung von Kindern aus der Ukraine nach Russland. Wie sehr hat sich also die moralische und rechtliche Bewertung in den letzten 78 Jahren verändert.

Beim Besuch des „Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin irritierte mich die Dissonanz zwischen den beiden Etagen der Ausstellung. In dem Teil über die Vertreibung der Deutschen aus Pommern, Schlesien und dem Sudetenland liest der Betrachter nur Zitate, die die Notwendigkeit der Umsiedlung von mehreren Millionen Menschen aus ihrer Heimat rechtfertigen und begrüßen, während man im Erdgeschoss eine Tafel findet, auf der Artikel 48 der Genfer „Konvention zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ zitiert wird, der die Zwangsumsiedlung von Zivilisten untersagt. Als die Konvention in Kraft gesetzt wurde, wurden Deutsche zynischerweise noch immer zwangsumgesiedelt. Wenn also heute, ohne eine militärische Lösung abzuwarten, die Entscheidung getroffen wurde, die Verantwortlichen der Zwangsumsiedlung strafrechtlich zu verfolgen, hoffe ich, dass diese Dissonanz zwischen dem Recht der Sieger und dem der Verlierer schwächer wird. Zumindest in einer moralischen und deklaratorischen Bewertung, denn ich vergesse nicht, dass Russland die Urteile des Haager Tribunals nicht anerkennt und die USA bezeichnenderweise auch nicht.

Bernard Gaida

Titelfoto: Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag (OSeveno/wikimedia.org)

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