Welche Reflexion?
In wenigen Tagen werden wir den 85. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs begehen und ich fürchte, dass sich sowohl der äußere als auch der innere Inhalt kaum ändern wird. In der Zwischenzeit scheint die Realität um uns herum bereits nach anderen Überlegungen zu verlangen. So feierte vor einigen Tagen die Ukraine ihren Unabhängigkeitstag, allerdings unter den Bedingungen einer russischen Aggression. Noch vor etlichen Jahrzehnten verfeindete Staaten sind heute eine geeinte Gemeinschaft, die die Ukraine in diesem Kampf unterstützt.
Der deutsche Angriff auf Polen vor 85 Jahren war zweifellos völkerrechtswidrig, ebenso wie die Einnahme der Krim durch Russland im Jahr 2014, auf die am 24. Februar 2022 ein militärischer Angriff folgte. Aber haben sich die Staaten im Laufe der Geschichte immer auf die richtige Seite gestellt? So griff in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003 die so genannte „Koalition der Willigen“, also die USA, Großbritannien, Australien und Polen, den Irak an, ebenfalls unter Verletzung des Völkerrechts, und rechtfertigte dies mit einer Propagandalüge. Dabei wurden bis zu 650.000 Iraker getötet, zumeist Zivilisten. Heute setzen sich die Länder dieser Koalition gemeinsam mit Deutschland und anderen für eine gerechte Sache ein, indem sie die sich verteidigende Ukraine unterstützen. Die Zahl aller Kriege in der Welt nach 1945 beläuft sich auf etwa 250. Ein weiterer ist mittlerweile im Nahen Osten im Gange. Lehrt uns das nicht, dass das Wichtigste, woran wir uns bei den aufeinander folgenden Jahrestagen erinnern sollten, ist, dass es in keinem Krieg Gewinner gibt? Dass es nur mehr oder weniger Zerschlagene gibt. Jede Seite trägt das Trauma der Opfer in sich. Können sich die Staaten Mittel- und Osteuropas trotz der Niederlage des Dritten Reiches als Sieger fühlen? Das ist in der Tat eine rhetorische Frage.
Seit 1945 hat es rund 250 Kriege auf der Welt gegeben. Im Nahen Osten ist mittlerweile ein weiterer im Gange.
Ein Besuch im Berliner Dokumentationszentrum „Flucht. Vertreibung, Versöhnung“ hat mich in meiner Meinung noch bestärkt, denn es zeigt den Leidensweg eines jeden Konflikts durch das Prisma der Menschen, die davon betroffen waren. Durch die Schilderung von Deutschen, die eine Flucht oder ein Nachkriegslager in Polen oder Jugoslawien überlebten, über „boatpeople“, die mit Booten aus Vietnam flohen, bis hin zu Flüchtlingen aus dem bürgerkriegsgeplagten Jugoslawien. Aber es gibt auch Bilder von polnischen Repatriierten, die 1946 Dörfer in der Nähe von Lemberg verließen und die Freude über den Sieg nicht spürten. Im März 2022 lauschte ich in Lubowitz dem Drama der ukrainischen Frauen von Mariupol und erst vor einer Woche hörte ich einem Vater zu, der um das Leben seiner Familie in Sumy zitterte, wo gerade Raketen eingeschlagen waren. Eine Erinnerungskultur, die sich ausschließlich auf die Universalität des Leidens und der Angst der Opfer konzentriert, verbunden mit der grundlegenden Bedeutung der Menschenrechte als einzigem Maßstab für die moralische Bewertung von Verhaltensweisen, auch in Kriegen, sollte der Inhalt jedes Gedenkens an Kriege sein. Diese Botschaft, verbunden mit dem Aufruf, ein starkes und geeintes Europa auf der Grundlage dieser Werte zu schützen, ging von den Feierlichkeiten zum „Tag der Heimat“ aus, die der Bund der Vertriebenen am Samstag organisiert hatte.
Bernard Gaida