In den ersten Tagen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine haben wir Angehörige der örtlichen deutschen Minderheit gefragt, wie sie ihre Lage und jene des Landes einschätzen. Hat sich die Situation in der Zwischenzeit verändert? Wir haben nochmals Stimmen gesammelt.
Luzk
„Bei uns ist es heute [am 03.03.2022, Anm. d. Red.] ruhig, aber in der Nacht und am frühen Morgen gab es einige Male Luftalarm“, erzählt Olha Tybor aus Luzk. Die Großstadt im Gebiet Wolhynien im Nordwesten der Ukraine ist nicht weit von der polnischen und belarussischen Grenze entfernt. Wie Olha Tybor berichtet, befürchte man, dass bald auch Soldaten aus Belarus an der Seite Russlands in die Ukraine einmarschieren könnten; jenseits der Grenze seien bereits 300 Panzer zusammengezogen worden. Außerdem gebe es immer wieder Berichte über Saboteure, die in der Stadt potenzielle Ziele für Raketenangriffe markieren würden. „Deshalb gibt es hier momentan viele Straßensperren und Kontrollposten. Wenn man mit dem Auto unterwegs ist, wird man ständig angehalten und durchsucht“, so die junge Frau, die Mitglied des Rates der Deutschen in der Ukraine ist.
Derzeit unterstützt sie ihre Eltern bei der Bewältigung des durcheinandergeratenen Alltags. Gemeinsam bereiten sie sich auf das Schlimmste vor. Gerade erst haben sie vorsorglich ihre Hausschweine geschlachtet – falls im Zuge eines Angriffs auf die Stadt die örtliche Lebensmittelversorgung zusammenbrechen sollte.
Cherson
Im südukrainischen Cherson ist die Lage hingegen schon jetzt dramatisch. Nach heftigen Kämpfen wird die Stadt nahe der Halbinsel Krim inzwischen von russischen Truppen kontrolliert. Julia Bogdan, Deutschlehrerin und Leiterin der örtlichen Jugendorganisation der deutschen Minderheit „Partnerschaft“, harrt mit ihren beiden Töchtern weiterhin zu Hause aus und berichtet von zahlreichen russischen Soldaten und Militärfahrzeugen auf den Straßen, Sprengkörpern an besetzten Gebäuden, Ausgangssperren und der Angst vieler Bewohner, überhaupt noch nach draußen zu gehen.
Daneben gebe es noch ein weiteres großes Problem: „Es gibt hier momentan einen großen Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten“, erklärt Julia Bogdan. Die Stadtverwaltung und auch viele Freiwillige würden jedoch alles versuchen, um die Versorgung der Menschen zu gewährleisten. Eine Panik gebe es trotz allem nicht. „Wir versuchen, die Ordnung aufrechtzuerhalten und allen Bedürftigen zu helfen. Alles, was wir haben, teilen wir miteinander“, bekräftigt sie.
Es sei aber unmöglich und viel zu gefährlich, die Stadt zu verlassen. „Alle Ausfahrtstraßen werden von den Russen kontrolliert. Wer sich ihnen nähert, riskiert, erschossen zu werden“, so die Lehrerin. Humanitäre Korridore gebe es nicht. Trotz der prekären Lage hat Julia Bogdan die Hoffnung auf eine baldige Besserung der Situation nicht aufgegeben. „Denn ohne Hoffnung wäre das Ganze unerträglich“, sagt sie.
Czernowitz
Czernowitz im Westen der Ukraine ist von direkten russischen Angriffen bislang verschont geblieben, der Krieg ist aber natürlich auch hier allgegenwärtig. „Jeden Tag gibt es Luftalarm und wir müssen in die Keller oder Bunker laufen“, erzählt Alexander Schlamp, Deutscher Honorarkonsul in Czernowitz und zugleich Präsidiumsmitglied des Rates der Deutschen in der Ukraine. Außerdem sei die Stadt das (vorläufige) Ziel zahlreicher Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen des Landes. Alexander Schlamp schätzt, dass sich ihre Zahl hier mittlerweile auf mehrere Tausend beläuft. „Die wichtigste Aufgabe ist es nun, diesen Menschen zu helfen“, sagt er.
Aus Rumänien würden täglich Transporte mit humanitären Hilfsgütern ankommen; außerdem gebe es überall in der Stadt provisorische Unterkünfte für die fliehenden Menschen. Der Honorarkonsul hofft, dass die Sanktionen gegenüber Russland bald noch verstärkt werden. Und von der NATO erwartet er den Schutz zumindest eines Teils des Himmels über der Ukraine.
Odessa
Alexander Gross, der Pastor der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine, berichtet aus der Gegend um Odessa am Schwarzen Meer. „Generell ist es hier noch ruhig, aber trotzdem hören wir immer wieder Raketeneinschläge und den Lärm der Kampfflugzeuge“, sagt er. Außerdem gebe es zahlreiche russische Kriegsschiffe, die von der Krim in Richtung der Küste bei Odessa unterwegs seien. Aus Angst vor einem baldigen Angriff hätten zahlreiche Menschen die Stadt und die Umgebung bereits verlassen, so der Geistliche. Das gilt auch für viele seiner insgesamt etwa 140 Gemeindemitglieder. „Aus meiner Gemeinde in Odessa sind fast 80 Prozent der Mitglieder schon in Richtung Westen geflohen. Nur die Alten, die nicht mehr fahren können, sind hiergeblieben“, erzählt er. Auch aus den zwei Dorfgemeinden seien schon etwa 20 Prozent der Mitglieder geflüchtet.
Um die Daheimgebliebenen kümmert sich Alexander Gross nun Tag und Nacht, kauft für sie ein, bringt ihnen Medikamente und organisiert die samstägliche Sozialküche. Jene Mitglieder in seiner Gemeinde in Cherson kann er aber nur noch telefonisch erreichen. Denn alle Zufahrtswege in die von russischen Truppen besetzte Stadt sind bereits blockiert.
Lucas Netter
(Stand: 04.03.2022, 15:00 Uhr)
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