Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Die Stadt versucht weiterzuleben“

Seit den ersten Tagen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine stehen wir mit Angehörigen der örtlichen deutschen Minderheit in Kontakt. Eine von ihnen ist Julia Bogdan aus Cherson. Mitte April 2022 floh die Deutschlehrerin mit ihren beiden Töchtern und ihrer Mutter nach München, lebt dort seitdem in einer Gemeinschaftsunterkunft. Nun ist sie für einige Stunden in ihre kürzlich von den russischen Besatzern befreite Heimatstadt zurückgekehrt. Uns hat sie von ihren Eindrücken erzählt.

„Es liegt diese eigenartige Ruhe über Cherson, als ob die Stadt schlafen würde“, erzählt Julia Bogdan am Telefon. „Auf den Straßen sieht man kaum Menschen und nur wenige Autos; es ist so still wie am frühen Morgen nach einem großen Fest.“

Doch es ist kein Fest, das hinter den Chersonerinnen und Chersonern liegt, sondern ein mehr als achtmonatiges Leben unter russischer Besatzung. Anfang März 2022, also kurz nach dem Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine, wurde die Großstadt im Süden des Landes von der russischen Armee eingenommen; erst Mitte November zogen sich die Russen im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive zurück auf die andere Seite des Flusses Dnipro.

Nun wehen in Cherson wieder die blau-gelben Fahnen der Ukraine. Der Krieg ist trotzdem noch immer allgegenwärtig – und zeigt, wie trügerisch die aktuelle „Ruhe“ vor Ort ist. „Die Russen greifen unsere Stadt weiterhin mit Raketen an, mehrmals am Tag werden wir von der anderen Seite des Flusses beschossen“, klagt Julia Bogdan. Auch zivile Einrichtungen und Wohngebiete würden dabei ins Visier genommen. „Die Russen wollen auf diese Weise unsere Moral brechen“, so die Deutschlehrerin und Leiterin der Chersoner Jugendorganisation der deutschen Minderheit „Partnerschaft“.

Zwischenstopp auf Weg nach Cherson: Julia Bogdan Ende Januar in Odessa
Foto: Julia Bogdan

Ein Großteil der vormals etwa 300.000 Einwohnerinnen und Einwohner Chersons ist seit dem Beginn der russischen Invasion in andere Landesteile der Ukraine oder ins Ausland geflohen – so wie Julia Bogdan, die Mitte April 2022 mit ihren beiden Töchtern und ihrer Mutter nach München flüchtete (siehe „Wochenblatt.pl“, Nr. 18/2022). In der bayerischen Landeshauptstadt lebt die kleine Familie weiterhin in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Bürogebäudes, das ein örtlicher Unternehmer zu einer Unterkunft für ukrainische Flüchtlinge umfunktioniert hat. Julia Bogdan hat mittlerweile sogar eine neue Arbeit gefunden: In München ist sie für die Johanniter-Unfall-Hilfe tätig und unterstützt behinderte Flüchtlinge aus der Ukraine beim Meistern ihres neuen Lebens in Deutschland (siehe „Wochenblatt.pl“, Nr. 49/2022).

Nun kehrte sie erstmals seit ihrer dramatischen Flucht vor etwa zehn Monaten wieder in ihre Heimatstadt zurück, wenn auch nur für wenige Stunden. „Ich musste wichtige persönliche Dokumente aus unserer Wohnung holen“, erklärt sie. Ende Januar fuhr sie dafür mit dem Bus von München zunächst nach Lwiw (Lemberg). Dann ging es weiter mit dem Zug über Odessa und Mykolajiw bis nach Cherson.

Düstere Atmosphäre über der Stadt

„Alles, was die Russen in und um Cherson angerichtet haben, ist wirklich schrecklich“, berichtet Julia Bogdan aus der befreiten Stadt. Sie erzählt von Bombenkratern in Vorgärten, von Einschusslöchern in Haustüren, von geplünderten und niedergebrannten Häusern, von Zerstörung und Tod. Trotzdem würden momentan wieder viele der zuvor geflüchteten Menschen in die Region zurückkehren – und sich ans Aufräumen und an den Wiederaufbau machen.

Spuren des Krieges: Einschusslöcher an einer Haustür in Cherson
Foto: Julia Bogdan

Julia Bogdan hatte Glück, ihre Wohnung ist bislang unbeschädigt geblieben; Wasser und Strom gebe es in ihrem Wohnblock allerdings weiterhin nur sporadisch. Die Lebensmittel- und Medikamentenversorgung in Cherson funktioniere hingegen schon wieder recht gut. „Die Stadt versucht weiterzuleben“, sagt Julia Bogdan mit fester Stimme. „Auch wenn angesichts der andauernden Raketenangriffe immer noch eine sehr düstere Atmosphäre über der Stadt liegt.“

Ein durch Raketenangriffe beschädigtes Haus in Cherson
Foto: Julia Bogdan

Sie erzählt: „Die Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, gehen nicht, sie laufen. Niemand geht hier spazieren. Alle versuchen, möglichst schnell von A nach B zu gelangen.“

Man warte sehnsüchtig auf die weitere Zurückdrängung der Russen in Richtung Krim und Schwarzes Meer – um so die Stadt aus dem Fadenkreuz des russischen Artilleriefeuers zu nehmen.

Besuch des Sitzes der örtlichen deutschen Minderheit

Während ihrer knapp 24 Stunden vor Ort besuchte Julia Bogdan auch das „Städtische Zentrum der deutschen Kultur in Cherson“ – gemeinsam mit der Direktorin Larisa Dvornikova, die auch während der Besatzungszeit in der Stadt geblieben war.

Das Zentrum arbeitet weiterhin nur im Onlinemodus; Sprachkurse oder Treffen der örtlichen deutschen Minderheit im Präsenzformat finden aus Sicherheitsgründen bis auf Weiteres nicht statt. „Über das Mobilfunknetz können die Russen größere Menschenansammlungen erkennen – und dann schießen sie mit ihren Raketen auf diese Orte. Das Risiko für persönliche Treffen ist also viel zu groß“, erklärt Julia Bogdan.

Die Fenster des deutschen Zentrums in Cherson wurden mit Spanplatten verrammelt.
Foto: Julia Bogdan

Um den Sitz der deutschen Minderheit, der sich im Chersoner Stadtzentrum befindet, zumindest ein wenig gegen Angriffe zu schützen (und auch, um mögliche Plünderer abzuhalten), wurden die Fenster des Hauses vor Kurzem mit Spanplatten verrammelt. Julia Bogdan sagt: „Das Zentrum können wir im Notfall renovieren lassen; das Wichtigste ist, dass unsere Menschen am Leben bleiben.“

Deutsche Panzer für die Ukraine

Am Abend des 26. Januar ging es für Julia Bogdan wieder zurück nach München. Ihre Mutter und ihre ältere Tochter hatten sie gebeten, früher zurückzukommen als geplant. „Sie haben Angst um mich und wollen, dass ich die Ukraine so schnell wie möglich wieder verlasse“, sagt Julia Bogdan.

Zwei Tage zuvor hatte die deutsche Bundesregierung erklärt, dem kriegsgeplagten Land schwere Kampfpanzer des Typs Leopard 2 zu liefern und Ausfuhrgenehmigungen an jene Staaten zu erteilen, die Panzer aus ihren eigenen Leopard-2-Beständen an die Ukraine abgeben wollen. Wie haben Julia Bogdan und ihre Landsleute diese Nachricht aufgenommen?

„Schon fast ein Jahr lang wehrt sich die Ukraine gegen diese russischen Angriffe. Wenn die ganze Welt den Russen von Anfang eine starke Antwort gegeben hätte, dann wären sie womöglich schon gescheitert. Aber ich verstehe, dass das Ganze nicht so schnell geht, wie wir uns dies wünschen würden. Ich glaube, dass diese Panzer der Ukraine sehr helfen werden. Wir müssen sie jetzt aber auch schnell erhalten!“, antwortet Julia Bogdan – und macht sich dann auf den Rückweg nach München. Sie hofft, dass ihre nächste Reise nach Hause sie in ein Land im Frieden führen wird.

Lucas Netter

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