Mit dem Autor des Buches „Die vielen Tode unseres Opas Jurek“ Matthias Nawrat sprach Marie Baumgarten.
Herr Nawrat, Sie erzählen in Ihrem Buch ein Stück Familiengeschichte. Ihre Geburtsstadt Oppeln spielt darin eine wichtige Rolle. Wer sich in Oppeln ein wenig auskennt, wird die Orte aus dem Buch wiedererkennen. Das Kaufhaus in der Krakowskastraße, wo man heute einen Biedronka, einen Empik und eine Drogerie findet, die Wohnung des Opas in der Katowickastraße und die der Eltern in der ZWM-Siedlung. Wie wichtig war es Ihnen, die Stadt zu rekonstruieren wie sie ist?
Opole ist die erste Stadt, die ich als Kind kennengelernt und mit den Eltern erlaufen habe, sie ist für mich die Ur-Geometrie einer Stadt und eine Art Blaupause für alle anderen Städte. Vor allem die ZWM-Siedlung ist wie ein mythologischer Raum. Unsere Wohnung, der sozialistische Kindergarten, die Apotheke, die Kirche. Wenn ich jetzt diese Wege ablaufe, überkommt mich manchmal so ein gruseliges Gefühl: Das kenne ich ja schon seit immer. Als ich anfing das Buch zu schreiben, bin ich durch die Stadt gegangen und habe mir die Ecken und Straßennamen bewusst angeschaut. Dabei sind mir einige Wahrnehmungstäuschungen aufgefallen. In einigen Erinnerungen aus meinen Kindheitstagen befand sich beispielsweise gleich hinter der Oleskastraße der Bahnhof, aber natürlich sind dazwischen noch der Plac Kopernika und die Krakowskastraße. Aber die falschen Erinnerungen gehören dazu, denn mein Buch ist auch eine Art Kindheitsroman, in dem es darum geht, wie man sich an etwas erinnert. Damit habe ich versucht zu spielen.
Opa Jurek, die Hauptfigur Ihres Romans (Erzählung?), kommt nach dem Zweiten Weltkrieg aus Warschau in die ehemals deutsche Stadt Oppeln. Als Direktor eines Kaufhauses macht er im nun kommunistischen Polen Karriere. Während des Krieges war Opa Jurek in dem Lager Auschwitz inhaftiert. Die Romanfigur kommt Ihrem echten Opa Jurek sehr nahe. Die Frage drängt sich auf: Was ist wahr, was ist Fiktion?
Manchmal weiß ich das selber nicht mehr. Die Erzählungen meiner Großeltern waren ja schon fabularisiert. Beide waren sehr gute Geschichtenerzähler, hatten dabei eine sehr warme Art, meine Oma immer noch. Sie haben dieselben Geschichten jahrelang immer wieder erzählt und verformt und zugunsten der Dramaturgie und Witzigkeit überspitzt. Einige klangen wie Abenteuergeschichten mit meinem Opa als Helden. Mein Opa kam ungefähr ein Jahr nach Kriegsbeginn in das Lager Auschwitz. Zu Beginn gab es immer wieder Menschen, die es geschafft haben, das Lager zu verlassen, so wie der ehemalige polnische Außenminister Władysław Bartoszewski. Meinem Opa ist das auch gelungen, ihm wurde von außen geholfen, und er wurde entlassen, es gibt sogar einen Entlassungsschein. Ich habe aus Kindertagen aber auch eine Geschichte im Kopf, in der er unter Lebensgefahr geflohen und dabei angeschossen worden ist – so hat er es uns erzählt, oder zumindest meine ich das. Später habe ich erfahren, dass die Wunde von einem Bombensplitter aus Berlin stammt, wo er später zur Zwangsarbeit verpflichtet war. Im Roman gibt es in Bezug auf das Ende seiner Internierung in Auschwitz zwei Varianten, die vom Erzähler erzählt werden, weil ich markieren wollte, dass man es als Nachgeborener mit einer Unsicherheit im Bereich des Erzählten zu tun hat.
Wie haben Sie Ihren Opa in Erinnerung?
Er war in seinem Habitus sehr witzig, hielt sich für einen Experten in allen Dingen. Meinem Bruder und mir gegenüber war er sehr liebevoll. Auf der anderen Seite war er aber auch ein Patriarch, was meine Oma manchmal ziemlich wütend gemacht hat. Er war außerdem bis in die 70er überzeugter Kommunist und man weiß nicht, woran er sich alles beteiligt hat. Eine widersprüchliche, manchmal sogar zwielichtige Person eigentlich.
Und ein guter Geschichtenerzähler, das haben Sie zu Beginn erwähnt. Seine Geschichten sind im Buch sehr humorvoll erzählt. Selbst die von der Inhaftierung in Auschwitz. Ist das Ihr Humor oder der Ihres Opas? Und darf man über Auschwitz Witze machen?
Das ist der Humor, den ich von meiner Familie habe. Es ist meiner und ihrer. Wenn meine Familie von früher erzählt, dann mit sehr viel Humor und ich habe versucht das zu destillieren und daraus ein stilistisches Mittel zu machen. Der Humor ist aber nicht nur Mittel zum Zweck, sondern das Thema des Buches im Grunde. Es geht in dem Buch darum, dass Humor eine Art Überlebensstrategie für Menschen sein kann, die Entwürdigendes erlebt haben und das irgendwie verarbeiten müssen. Es ist ein tragikomischer Humor. Der hat mich an meinen Großeltern immer sehr berührt, weil er etwas sehr Lebensbejahendes hat.
Im Alter von zehn Jahren sind Sie und Ihre Familie nach Deutschland ausgewandert, das war 1989 – kurz vor der politischen Wende.
Meine Eltern wollten in einem freien Land leben. Mein Vater arbeitete an der Universität, er wollte eine Kooperation mit einer Uni in Kanada eingehen, was ihm aber nicht gestattet wurde. Dass schon bald tatsächlich der politische Wandel kommen würde, war nicht absehbar. Mein Vater ist deshalb geflohen, und zwar mit einem Touristenvisum. Wir sind dann später mit einer Ausreisegenehmigung nachgereist. Mein Vater konnte nachweisen, dass sein Großvater mütterlicherseits Deutscher gewesen war und so galten wir als Spätaussiedler.
In Bamberg haben Sie ein neues Leben begonnen. Der Anfang war sicher schwierig, Sie sprachen kein deutsch.
Im ersten halben Jahr habe ich in der Schule fast gar nichts verstanden. Dann sollte ich eine Spätaussiedlerschule besuchen. Da gab es aber nur Russen, die sich untereinander die ganze Zeit russisch unterhalten haben. Da war ich der einzige, der deutsch gesprochen hat. Also kam ich wieder zurück auf die alte Schule, und mittlerweile hatte ich mir die Sprache schon soweit angeeignet, dass ich in den Unterricht einsteigen konnte.
Machen Sie sich manchmal darüber Gedanken, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie nicht ausgewandert wären?
Ja, klar. Ich hätte vielleicht in Wroclaw studiert, weil mir Opole zu provinziell gewesen wäre. Vielleicht wäre ich ins Ausland gegangen wie viele junge Polen. Ich frage mich aber, ob ich Schriftsteller geworden wäre. Oder ob erst diese merkwürdige Art von Entwurzelung dazu beigetragen hat.
Sie fühlen sich entwurzelt?
Nicht im negativen Sinne. Ich habe zwangsweise eine mobile Identität in Hinsicht auf Sprache und kulturellen Hintergrund. Damit habe ich aber kein Problem, weil ich mich in einem breiteren Kontext einer europäischen Kultur zugehörig fühle.
Wo ist Ihre Heimat?
Das ist situationsabhängig. Das, was mir vertraut ist, fühlt sich heimisch an. Das kann die Sprache sein oder bestimmte menschliche Wesenszüge. Ich war mal einen Monat lang in Nowosibirsk. Da habe ich Deutschland vermisst, die deutsche Sprache. Vieles dort schien mir fremd. In der Nähe meiner Wohnung ging ich immer an einer polnischen Kirche vorbei, und das war etwas Vertrautes für mich, wie so ein Anker in der Stadt, obwohl ich nie die Kirche betreten habe. Aber ich mochte es, dass sie da ist.
Ihr Buch wurde auch ins Polnische übersetzt, das freut Sie sicher. Haben Sie die Übersetzung gelesen?
Das freut mich sehr und ich war aufgeregt! Die Übersetzerin Anna Wziątek hat sich nie bei mir gemeldet, um etwas nachzufragen. Anscheinend war ihr alles klar. Als ich die polnische Übersetzung gelesen habe, war ich froh, dass sie so gut gelungen ist. Die Übersetzerin hat es geschafft, den Ton zu treffen. Auch die Details stimmen. Die Verwendung des deutschen Begriffes Auschwitz an den Stellen, wo in der deutsche Fassung der polnische Begriff Oświęcim auftaucht, halte ich zum Beispiel für eine passende Lösung. Mein Opa hat immer das Wort „Oświęcim“ benutzt, wenn er über das Lager gesprochen hat, obwohl es ein deutsches Lager war. denn als er die Gedenkstätte besuchte, hieß das ehemalige Lager nicht mehr Auschwitz, sondern Oświęcim. Hört man im Deutschen das Wort Auschwitz, wird man im Kopf außerdem sofort mit bekannten Bildern überflutet. Das wollte ich vermeiden, um die Ereignisse in Auschwitz möglichst ohne Vorprägung zu erzählen. Damit sie noch empören und Gefühle auslösen können.
In der deutschen Fassung verwenden Sie auch die polnischen Ortsnamen Opole und Wrocław. Sie sprechen auch von dem „Wunder an der Wisła“. Nur bei Warschau machen Sie eine Ausnahme.
Opole ist eine Stadt mit einer sehr wechselhaften Geschichte. Ich habe sie als Kind als eine polnische Stadt kennengelernt, die sie ja heute ist. Meine Muttersprache ist polnisch und ich verwende deshalb bis heute, auch wenn ich deutsch spreche, den polnischen Namen. Aber im Roman habe ich kein politisches Statement machen wollen, ich habe die Namen eher intuitiv gewählt.
Warum war es Ihnen wichtig, diese Erinnerungen festzuhalten?
Ich wollte die Leben derjenigen Menschen, die ich liebe, vor dem Zurücksinken in die Geschichte retten. Es ging mir darum, sie noch einmal zum Leben zu erwecken, und auch diese Zeiten, die für immer verloren sind. Schreiben ist doch auch immer ein Stück weit der Versuch, das Unausweichliche zu verhindern, das Leben gegen den Tod gewinnen zu lassen.