Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Eine Demokratie wird an ihrer Minderheitenpolitik gemessen“

Mit Stefan Seidler zieht erstmals seit 1949 wieder ein Abgeordneter des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) in den Deutschen Bundestag ein. Die Partei der dänischen Minderheit im Landesteil Schleswig und der nationalen Friesen in Nordfriesland möchte in Berlin als „Wachhund“ der Minderheiten auftreten – und für skandinavische Lösungen werben.

Etwas mehr als 55.300 Stimmen bei der Bundestagswahl am 26. September haben für die Sensation im Norden gereicht: In der kommenden Legislaturperiode wird der SSW zum ersten Mal seit rund 70 Jahren wieder einen Sitz im Deutschen Bundestag haben. Möglich macht dies eine Sonderregel im deutschen Wahlrecht, die Parteien nationaler Minderheiten von der Fünf-Prozent-Hürde befreit.

 

Die Partei der dänischen Minderheit und der nationalen Friesen hat im Bundesland Schleswig-Holstein eine lange Tradition und sitzt seit 1958 ununterbrochen im Kieler Landtag. Nun feiert die Minderheiten- und Regionalpartei das Comeback im Deutschen Bundestag und wird mit genau einem Abgeordneten in Berlin vertreten sein. Der künftige Parlamentarier heißt Stefan Seidler, ist 41 Jahre alt und kommt gebürtig aus Flensburg. Seit 2014 ist er zudem Dänemark-Koordinator der schleswig-holsteinischen Landesregierung.

 

Politische Prozesse beeinflussen können

Das letzte Mal nahm der SSW 1961 an einer Bundestagswahl teil, damals allerdings erfolglos. Ausschlaggebend für die Entscheidung, in diesem Jahr wieder anzutreten, waren mehrere Gründe, wie Stefan Seidler erklärt: „Zum einen haben wir es in der Vergangenheit des Öfteren erlebt, dass in Berlin über unsere Köpfe hinweg bestimmt wird – auch was die Minderheitenpolitik betrifft. Wir hatten letztlich nur einen sehr geringen Einfluss auf die Faktoren, die uns als dänische Minderheit und als Friesen in der Grenzregion besonders wichtig sind.“

 

Als ein Beispiel für diesen geringen Einfluss nennt Stefan Seidler den 2018 von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten „DigitalPakt Schule“, der die Digitalisierung an den allgemeinbildenden Schulen voranbringen sollte – und bei dem die Schulen der dänischen Minderheit (zunächst) schlicht vergessen wurden.

 

Zum anderen kritisiert Stefan Seidler, dass die nationalen Friesen für ihre Projektarbeit bislang keine Grundfinanzierung seitens der Bundesregierung erhalten. „Bisher sind das alles einjährige Fördermittel, die sie für ihre Kultur- und Bildungsarbeit abrufen; und jedes Jahr müssen sie diese Mittel neu beantragen. Wir vom SSW sind der Meinung, dass das nicht so weitergehen kann, dass wir eine Grundausstattung brauchen“, sagt der frisch gewählte Bundestagsabgeordnete. Auch, um dieses Manko abzustellen, sei man bei der Bundestagswahl angetreten.

 

Stefan Seidler
Foto: ssw.de

 

Minderheitenschutz im Grundgesetz verankern

Zudem sieht der SSW eine Entwicklung in der deutschen Gesellschaft, die ihm Sorge bereitet: „Wir registrieren eine Zunahme des rechten politischen Spektrums, von dem wir uns als Minderheit bedroht fühlen“, sagt Stefan Seidler. „Eine Demokratie wird immer auch daran gemessen, wie gut ihre Minderheitenpolitik ist – und da machen wir uns im Augenblick ein wenig Sorgen.“ Insofern sei die Bekämpfung der Diskriminierung von Minderheiten ein weiterer wichtiger Aspekt, dem man sich im Bundestag verstärkt zuwenden wolle. Man wolle in Berlin sozusagen als „Wachhund“ der Minderheiten auftreten.

 

Stefan Seidler hat diesbezüglich bereits konkrete Vorhaben: „Wir möchten erreichen, dass der Minderheitenschutz im Grundgesetz verankert wird“, sagt er. „So, wie wir es aus Schleswig-Holstein kennen, denn dort sind die Minderheitenrechte ja bekanntlich in der Landesverfassung festgeschrieben.“ Außerdem wolle man sich auch für andere nationale Minderheiten, die in Deutschland leben, stark machen, „sprich für Sorben oder auch für Sinti und Roma – das ist uns wichtig“, bekräftigt der studierte Politikwissenschaftler.

 

Auch mit anderen nationalen Minderheiten in Europa, zum Beispiel mit der deutschen Minderheit in Dänemark oder derjenigen in Polen, möchte der SSW zusammenarbeiten und sich austauschen. „Wir sind immer daran interessiert, zu erfahren, welche Probleme andere Minderheiten in Europa haben und wie wir uns in Berlin für sie starkmachen können. Ich habe immer ein offenes Ohr für ihre Belange – solange sich diese im demokratischen und vernünftigen Spektrum abspielen“, so Stefan Seidler.

 

Auch Regionalpartei sein und für skandinavische Lösungen werben

Der SSW definiert sich allerdings nicht „nur“ als Minderheitenpartei, sondern auch als Regionalpartei. In den letzten Jahren habe man gemerkt, dass der hohe Norden wirtschaftlich „hinterherhinkt“, wie es Stefan Seidler ausdrückt. „Es kommen keine Fördermittel an, die Investitionen bei uns sind gering, die Infrastruktur ist schlecht – die Lage ist generell nicht so positiv. Es kann nicht sein, dass wir dieses Nord-Süd-Gefälle haben, dass unsere Region in Berlin immer wieder zu kurz kommt. Auch aus diesem Grund sind wir bei der Bundestagswahl angetreten.“

 

Inhaltlich orientiert sich der SSW zudem stark an den skandinavischen Ländern – und möchte auch im Bundestag dafür werben, sich in manchen Bereichen an diesen Staaten zu orientieren und sich ihre Politik zum Vorbild zu nehmen. Als Beispiel nennt Seidler die Digitalisierung: „Da ist man uns in Dänemark um Lichtjahre voraus, während wir hier in Deutschland immer noch glauben, dass das hochwissenschaftliche Raketentechnologie sei.“ Außerdem liege es im Selbstverständnis der Partei der dänischen Minderheit, einen Sozialstaat und auch ein Bildungssystem wie in Skandinavien oder in Dänemark anzustreben.

 

Im neugewählten Bundestag wird Stefan Seidler zunächst bei der SPD sitzen, anschließen will er sich aber weder der Fraktion der Sozialdemokraten noch einer anderen Fraktion der im Bundestag vertretenen Parteien. „Wir vom SSW wollen unabhängig bleiben, weil ich selbstständig und souverän den Finger in die Wunde legen möchte, wenn Minderheitenrechte nicht gewahrt werden oder wenn unsere Region mal wieder zu kurz kommt. Das kann ich nicht, wenn ich einem Fraktionszwang unterliege“, sagt er. „Aber wir kooperieren natürlich mit allen demokratischen Parteien und arbeiten konstruktiv mit ihnen zusammen – das ist man von uns schon aus Schleswig-Holstein gewohnt.“

Lucas Netter

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