Vor 70 Jahren begannen Wallfahrten der Ostvertriebenen nach Werl und Bochum-Stiepel: Flüchtlinge und Vertriebene, ob aus Schlesien mit der Grafschaft Glatz, aus dem Ermland, Danzig, aus dem Sudetenland und den weiteren Vertreibungsgebieten – später kamen Aussiedler und Spätaussiedler dazu.
Bis Sommer 1946 lassen sich auf Grund von Einträgen im Gästebuch der Werler Franziskanermönche vier Pilgergruppen nachweisen, die einen eindeutigen Bezug zu Flucht und Vertreibung aufwiesen. Als erste organisierte Wallfahrt kann die Wallfahrt vom 29. Juni 1946 bezeichnet werden. Die „Katholische Osthilfe“ des Erzbistums Paderborn übernahm dabei die Trägerschaft der Wallfahrt, an der etwa 2.000 Pilger teilnahmen. Die Festpredigt hielt der Leiter der Katholischen Osthilfe in Lippstadt Pfarrer Wilhelm Trennert (1909 in Posen geboren – 1972 in Lippstadt verstorben).
Ein Jahr später, am 29. Juni, nahm an der Vertriebenenwallfahrt mit mehr als 10.000 Pilgern Bischof Maximilian Kaller (Bischof von Frauenburg/Ermland) teil. Seit 1948 werden die Wallfahrten vom neu gegründeten St. Hedwigswerk organisiert. Das Umschlagbild des Wallfahrtsheftes von 1947 zeigt Bischof Kaller als Brustbild mit seinem Wahlspruch „Die Liebe Christi drängt mich!“ 2 Kor.5, 14. Die Hefte wurden nachträglich Ende 1947 gedruckt und dem „Päpstlichen Sonderbeauftragten für die heimatvertriebenen Deutschen“ gewidmet, der eine Woche später am 7. Juli 1947 starb.
Der erste Vertriebenenbischof
Vor der drohenden Einnahme des Gebietes durch die Sowjetarmee zwang die SS Bischof Kaller am 7. Februar 1945 Frauenburg (Frombork) zu verlassen. Kaller, der 1880 in Beuthen O/S geboren und 1930 zum Bischof von Ermland geweiht wurde, gelangte nach Halle/Saale, von wo aus er jedoch im Sommer 1945 nach Frauenburg, seinem Bischofssitz, zurückkehrte. Nachdem ihn jedoch August Kardinal Hlond zum Verzicht auf sein Bischofsamt gezwungen hatte, verließ Kaller Ermland und lebte zunächst im westfälischen Wiedenbrück. Am 29. Juni 1946 wurde Kaller von Papst Pius XII. als „Päpstlicher Sonderbeauftragter für die Heimatvertriebenen“ berufen – Kaller errichtete in äußerst beschränkten räumlichen Verhältnissen in Frankfurt am Main eine Zentralstelle, von wo aus er versuchte, seine verstreuten heimatlosen Diözesanen zu sammeln.
Als sogenannter „Vertriebenenbischof” rastlos im Einsatz, war er durch das Schicksal der Vertreibung traumatisiert. Seine Arbeit war oft durch Übereifer und Illusionen gekennzeichnet. So hatte er beispielsweise einen Plan, seine vertriebenen Diözesanen in Südamerika anzusiedeln oder eine bischöfliche Stellung im nördlichen Ostpreußen zu erlangen, das von den Sowjets annektiert wurde. Der aufreibende Einsatz des Vertriebenenbischofs führte zu seinem plötzlichen Tod durch Herzschlag. Seine letzte Ruhestätte fand er in Königstein/Taunus. Der Vertriebenenbischof Kaller erwarb sich die Verehrung vieler Gläubigen vor allem aus dem Ermland und aus seiner Heimat Oberschlesien. Seit den 90er-Jahren bemüht sich die „Bischof-Maximilian-Kaller-Stiftung e. V.“ das Andenken an Bischof Kaller wach zu halten. Am 4. Mai 2003 wurde bei der Wallfahrt der Ermländer in Werl der Seligsprechungsprozess für Maximilian Kaller eröffnet.
Aufstieg des Wallfahrtsortes Werl
Bis 1946 war der Wallfahrtsort Werl einer der zahlreichen Wallfahrtsorte mit regionaler Bedeutung. 1661 wurde das im 12. Jahrhundert geschaffene Gnadenbild aus der Wiesenkirche Soest nach Werl übertragen, nachdem Soest zuvor protestantisch wurde und das Gnadenbild in Vergessenheit geriet. Das Gnadenbild Unserer Lieben Frau, auch „Trösterin der Betrübten“ genannt, ähnelt dem Gnadenbild in Wartha (Bardo). Beide stellen eine thronende Madonna mit dem Jesuskind auf ihrem Schoß dar.
Durch die Wallfahrten der Ostvertriebenen stieg Werl zum drittgrößten Wallfahrtsort in Deutschland auf – nach Altötting und Kevelaer. Da die Pilgerzahl der Vertriebenen von Jahr zu Jahr stetig anstieg, wurde bald eine Aufteilung der Pilger-Vertriebenen notwendig: So wurden die Pilger aus dem Gebiet Schlesien in Wallfahrten der Nieder- und Oberschlesier, aus der Grafschaft Glatz und den Branitzer Anteil der Erzdiözese Olmütz (Olomouc) aufgeteilt.
Neue Heimat
Für viele Flüchtlinge und Vertriebene wurde der Wallfahrtsort Werl zu einer neuen Heimat und zum Ersatz für die verlorenen Wallfahrtsorte im Osten. Ihre Wallfahrten wurden zum Bekenntnis zum Glauben und zur Heimat. Zur Schlesierwallfahrt 1953 strömten über 70.000 Pilger nach Werl – prominente Gäste damals waren der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings und Bundeskanzler Konrad Adenauer.
So wurde Werl zu der schlesischsten Stadt Westdeutschlands, nicht zuletzt deswegen, weil die 9.000 Einwohner zählende Stadt um 3.000 Vertriebene bis 1947 anwuchs. Unter ihnen waren größere Gruppen wie die Überlebenden der St. Matthias-Gemeinde, die die Festungszeit in Breslau überlebten hatten, oder die Mitglieder der Liegnitzer Gemeinde mit Pfarrer Johannes Smaczny, dem späteren Diözesan-Vertriebenenseelsorger der Diözese Osnabrück.
„In unserem Elternhaus an der Steiner Straße lebten bis Kriegsende acht Personen. Durch die Vertriebenen stieg die Zahl der Bewohner auf 37. Die Zustände waren auf Dauer unzumutbar. Die allermeisten hatten durch Krieg und Vertreibung alles verloren. Die Wallfahrten hatten immer der Charakter eines Heimattreffens“, erinnert sich der Werler Fotograf Helmuth Euler.
Der Bericht einer schlesischen Lehrerin von 1946 zeigt, in welcher Not diese Treffen begannen und wie sie zu wiedergeschenkter Erfahrung der Glaubensheimat halfen: „Viele dankbare Blicke suchten die Franziskanerpatres. Die braunen Kutten sind uns Schlesiern vertraut. Auch für euch war dies wohl eine einzigartige Wallfahrt. Ohne Abholung mit Geläut, feierlichem Gesang und festlicher Begleitung. Still, sehr still, waren wir Pilger. Sie wagten nur halblaut zu sprechen, die Tausende. Diesmal fiel kein frohes, lachendes Wort, wie es sonst zu einer Gemeinschaftswallfahrt gehört. Und doch war es schön. Ihr habt uns mit Freuden empfangen. Wir haben es tief empfunden. Die Fahnen habt ihr für uns aufgezogen an der Kirche! Das bleibt unvergessen. Ihr habt an alles gedacht, auch an die Tafeln für die Suchzettel. Einen Tag durften wir daheim sein, sprechen, singen und beten wie zu Hause.“
Johannes Rasim