Marcel Krueger arbeitet als Autor, Übersetzer und Redakteur. Seine Themen findet er meist auf Reisen und in der europäischen Geschichte. Eine vom Deutschen Kulturforum östliches Europa berufene internationale Jury hat ihn in diesem Jahr als Stadtschreiber in Allenstein (Olsztyn) gewählt. Die Region kennt er bereits aus alten Erzählungen seiner Großmutter Cäcilie.
Herr Krüger, zuletzt haben Sie in Berlin, Köln und Dublin gelebt – Weltstädte. Im Mai geht es nun in die rund 170 000-Einwohner-Stadt Allenstein (Olsztyn) in Ermalnd-Masuren. Wie blicken Sie dieser Zeit entgegen?
Ich habe Olsztyn/Allenstein schon ein paar Mal besucht, und wenn es auch von der Größe nicht mit Berlin oder Dublin vergleichbar ist, so habe ich die Stadt aber jedes Mal als weltoffenen und freundlichen Ort mit großem Kulturangebot erlebt. Ich freue mich also sehr auf meinen Aufenthalt in der sympathischen “Hauptstadt” von Ermland-Masuren und am meisten freue ich mich darauf, die Stadt endlich einmal über einen längeren Zeitraum zu erleben und am Leben hier teilnehmen zu dürfen.
Allenstein kennen Sie bereits durch Recherchen für Ihr Buch „Von Ostpreußen in den Gulag. Eine Reise auf den Spuren meiner Großmutter“. Es erscheint am 22. März. Woher der Wunsch, die Geschichten Ihrer Oma Cäcilie über deren Zeit in Ostpreußen und in sowjetischen Arbeitslagern zum Thema Ihres Buches zu machen?
Gerade als ich klein war, hat meine Oma mir viel über ihr Leben in Ostpreußen erzählt, und auch immer wieder kurze Sätze über die Lager in der Sowjetunion fallen lassen. Vielleicht weil meine Eltern all die Geschichten schon kannten, vielleicht weil ich ein williger Zuhörer war. Und so habe ich schnell den Entschluss gefasst – das muss so mit elf oder zwölf Jahren gewesen sein – die Geschichte meiner Großmutter niederzuschreiben. Aber die Aufgabe erschien mir erst eine Nummer zu groß. All diese Einzelheiten, wie damit umgehen? Und vielleicht kämen Fragen auf, auf die ich im Grunde keine Antworten hören wollte. Später kam das Leben dazwischen. Cilly starb 2009 an den Folgen von Alzheimer. Und das war sicher auch der Auslöser dafür, das Buch endlich zu schreiben: die faszinierende Geschichte Cillys sollte endlich auch für andere zugänglich sein, und auch chronologisch nachvollziehbar. Deswegen habe ich mich sowohl selber auf den Weg nach Polen und Russland gemacht als auch die Lücken in Cillys Geschichten mit einer Mischung aus Nachforschungen, Sekundärliteratur und den Aussagen von Zeitzeugen gefüllt.
Meine Großmutter ist ein Niemand in den weltumspannenden Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs und danach. Aber dennoch finde ich es wichtig, ihre Geschichte und die der anderen Frauen in den Zwangsarbeitslagern einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nur wenn wir die Geschehnisse auf einer menschlichen Ebene nachvollziehen und verstehen, was politische und militärische Entscheidung für den einzelnen heißen, können wir wirklich verstehen was Krieg, Verschleppung und Flucht wirklich bedeutet – und das ist gerade heute, wo viele Menschen (oft in Social Media) zu schnell über andere urteilen und diese aufs Übelste beschimpfen, immer wichtiger.
Welche der Geschichten hatte in Ihnen die größten Emotionen ausgelöst?
Als Kind hat meine Oma mir wie gesagt sehr viel erzählt – Geschichten über Wölfe im Wald, Schlittenfahrten im Winter, Kartoffelernten im Herbst, aber auch über ‘junge Mädchen, die ‘das Wasser aus Pfützen trinken mussten’. Als Kind nahm ich diese Geschichten einfach hin und schenkte ihnen genauso viel Glauben wie Märchen – es waren also durchweg positive Geschichten für mich. Meine Großmutter sprach oft vom Gut der Eltern und der scheinbar friedliche Zeit in der sie in Lengainen (heute Łęgainy) aufwuchs, und ich kann mich an einige der Geschichten besser erinnern als an andere: Wie sie ihren Brüdern Kaffee brachte, die an einem heißen Sommertag auf den Feldern arbeiteten; wie der Hofhund ein lautes Jaulen anstimmte, als ihr Vater starb; wie meine Großmutter Speck in der Pfanne ausließ und das Fett einer Thermoskanne mit Kaffee beimischte, damit ihr Bruder einen Abend mit Kartenspielen und Schnaps in der örtlichen Kneipe überstand.
Es gibt aber nicht die eine Lieblingsgeschichte wenn ich ehrlich bin. Was für mich wichtiger ist, ist die Tatsache dass das Leben meiner Oma Cilly sich grundlegend vom Leben der jungen Frau Cäcilie unterscheidet. Im Buch nenne ich das die drei Leben meiner Großmutter: die Zeit in Ostpreußen, die vier Jahre in den Lagern, und schließlich in Solingen, ihrer neuen Heimat in Westdeutschland.
Haben Sie Ostpreußen so vorgefunden, wie die Oma es beschrieben hat?
Nein, natürlich nicht. Was ich vorgefunden habe war die polnische Woiwodschaft Ermland-Masuren und die Stadt Olsztyn. Beides wunderbare Orte, die ich immer wieder gerne besuche, aber eine Beziehung zwischen den Orten der Gegenwart und der Vergangenheit meiner Familie lässt sich nicht konstruieren. Das ist aber auch nicht schlimm: ich habe ja das Ostpreußen und den Kreis Allenstein, in dem die Geschichten meiner Oma spielen, dank dieser Geschichten für immer in meinem Kopf und jetzt auch auf dem Papier. Ostpreußen hat in der deutschen und europäischen Geschichte und Kultur einen enorm wichtigen Platz, und ich freue mich sehr dass heute diese Geschichte in Polen ihren Platz eingeräumt bekommt. Und ich freue mich genauso über jeden Besuch in Ermland-Masuren und die großartige Natur hier, die ich ganz unabhängig von der deutschen und polnischen Geschichte beim Kajak fahren auf der Krutynia oder bei einem kalten Bier am Ufer der Łyna in Olsztyn/Allenstein genießen kann.
Ab Mai ist es dann soweit: Sie werden fünf Monate lang Stadtschreiber von Allenstein sein. Gibt es schon Pläne für die Zeit danach? Wird es zurück nach Hause gehen? Und: wo ist Ihr Zuhause, Ihre Heimat?
Während meiner Zeit in Olsztyn/Allenstein werde ich an meinem nächsten Buch arbeiten, welches die Geschichte meines Großonkels behandeln wird. Franz Nerowski war einer der Gründungsmitglieder des Bund der Polen in Deutschland e.V. in Allenstein, hat sich trotz seines deutschen Passes als Pole gefühlt und für den polnischen Geheimdienst vor 1939 die Wehrmacht ausspioniert, wofür er 1942 hingerichtet wurde. Ich hoff, dass dieses Buch, welches auch das Thema Heimat und Identität behandeln wird, 2020 sowohl auf Deutsch als auch Englisch erscheint.
Und für mich geht es dann nach der Zeit in Olsztyn/Allenstein wieder zurück nach Irland. Meine Heimat, im Sinne des Wortes, ist Europa. Ich pendele jetzt schon seit fast 15 Jahren zwischen Deutschland und Irland, und bin genauso gerne in Polen wie in Frankreich und Island, wo ich überall Familie und viele Freunde habe. Gerade in dieser Zeit, wo Begriffe wie “Heimat” und “Nation” immer wieder dazu benutzt werde, andere Menschen auszuschließen und herabzusetzen, finde ich es sehr wichtig sich bewusst zu machen, dass es durchaus möglich ist, mehrere Orte als Heimat zu empfinden und auch so zu bezeichnen. Und dafür ist Olsztyn/Allenstein mit seiner wechselhaften Geschichte wirklich beispielhaft.
Das Gespräch führte Marie Baumgarten
Marcel Krueger wurde 1977 in Solingen geboren. Er arbeitet für das Berliner Elsewhere Journal, als Buchredakteur und schreibt u. a. für The Daily Telegraph, The Guardian, die Süddeutsche Zeitung und CNN Travel. Die Deutschland-Buchpremiere von „Von Ostpreußen in den Gulag. Eine Reise auf den Spuren meiner Großmutter“, das am 22.03.2019 im Reclam Verlag erscheint (aus dem Englischen übersetzt von Holger Hanowell), findet am 26.03.2019 um 18 Uhr im Osteuropa-Buchladen, Café und Kulturzentrum ostPost in Berlin statt.
Autor Marcel Krueger wird das Buch vorstellen und einige Auszüge lesen, und danach mit Dr. Magdalena Gebala vom Deutschen Kulturforum östliches Europa ein Gespräch über das Thema deutsch-polnische Identität, auch im Hinblick auf Flucht und Vertreibung in beiden Ländern, führen.
Adresse: ostPost, Сhoriner Str. 84, 10119 Berlin