Heimat, liebe Heimat… Wie weit sind wir bereit für sie zu gehen? Josefa ist 80 Jahre alt. Sie hat Lieder gesungen über ihre Heimat, Gedichte aufgesagt und jeden Monat Geld gespendet. Aber irgendwann – war ihr das alles zu wenig.
Josefa Brigitte Langwald ist 80 Jahre alt. 70 davon verbindet sie mit Stuttgart.
Im Juni 2020 unternahm sie einen waghalsigen Schritt: Josefa zog noch einmal um in ihrem hohen Alter. Und zwar von Deutschland nach Polen. Von Stuttgart nach Lechowo, früher Lichtenau in der Gemeinde Mehlsack/ Pieniężno.
Josefa zog um nach Lechowo, obwohl sie niemanden hier kennt.
Aber – dieser Ort hier – das ist Heimat, sagt Josefa.
Hier in Lechowo, damals noch Lichtenau, ist sie geboren, hier hat sie ihre ersten vier Lebensjahre verbracht.
Polnisch spricht Josefa zwar nicht. Und Weihnachten hat sie in diesem Jahr auch allein verbracht. Aber traurig war sie deswegen keineswegs. Im Gegenteil, das erste Mal, nach 76 Jahren hat sie Weihnachten in ihrem Heimatdorf gefeiert. Zur Hirtenmesse ist sie in die Kirche gegangen, in der sie auch getauft wurde.
Um ehrlich zu sein, sagt sie, ich hatte es kaum erwarten können.
Stuttgart versus Lechowo
Stuttgart ist Sitz der Firmen Alcatel-Lucent, Daimler AG, Hewlett-Packard, IBM, Neoplan, Porsche, Robert Bosch GmbH. Das klingt nicht beeindruckend? Dann fügen wir noch hinzu, dass die Region Stuttgart die größte Ansammlung an wissenschaftlichen Forschungsinstituten in ganz Deutschland aufweist. Nirgends in Deutschland werden mehr Patente angemeldet wie hier. Die Ausgaben für Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in der Region Stuttgart liegen bei etwa 4,3 Milliarden Euro pro Jahr. Stuttgart hat zwei Universitäten, zwei Max-Planck-Institute und die Staatsoper Stuttgart zählt zu den bedeutendsten Opernhäusern Europas – um nur eine kulturelle Institution zu benennen.
Lichtenau dagegen liegt irgendwo im Nichts zwischen Allenstein und Kaliningrad, ist ein kleines Dorf in Ermland mit etwa 240 Einwohnern.
Kann das gegen Stuttgart gewinnen? Es mag seltsam klingen, aber es kann.
Flucht
Josefa hat ihre ersten vier Lebensjahre in Lichtenau, im heutigen Lechowo, verbracht. Ihre Eltern hatten dort einen Hof. Josefa hatte eine anderthalb Jahre ältere Schwester und einen anderthalb Jahre jüngeren Bruder. Sie war also das mittlere dreier Kinder.
Eine der frühesten Erinnerungen Josefas ist der Kriegswinter 1945. Josefa ist gerade fünf Jahre alt. Sie erinnert sich an die gellenden Schreie der Menschen und das Wiehern der Pferde, als sie mit ihrer Familie und vielen anderen versucht, über das zugefrorene Frische Haff zu gelangen. Es ist eine eiskalte, nächtliche Fahrt im Februar des Jahres 1945. Über ihnen jagen russische Flugzeuge durch den Nachthimmel und beschießen sie.
Josefa, ihre ältere Schwester und ihre Mutter haben Glück und gelangen irgendwie nach Danzig und von dort mit dem Schiff nach Dänemark. Ihr Großvater, der damals 84 Jahre alt ist, und ihr kleiner Bruder überleben die Flucht nicht.
In Dänemark angekommen, verbringt Josefa mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester zwei Jahre in einem Flüchtlingslager. Sie leben unter primitiven Bedingungen, sehr beengt, gemeinsam mit anderen Menschen, die das Schicksal aus ihrem Zuhause vertrieben hatte. Nach zwei Jahren kann die mittlerweile 7-jährige Josefa mit ihrer Familie schließlich nach Deutschland ausreisen. Ihre Mutter, die sehr gläubig war, will in einer katholischen Region wohnen. So kamen sie nach Baden-Württemberg.
Stuttgart – meine Stadt
„Mama arbeitete in Stuttgart als Haushaltshilfe, ich beendete die Schule und ging zur Arbeit. Mein Vater? Wir haben ihn nie wieder gesehen. Laut dem Roten Kreuz fiel er irgendwo in Estland, beim Peipussee.“
Josefa hat ihr ganzes Berufsleben als Sekretärin gearbeitet. Unter anderem im Finanzamt, in einer Schule und in einem Notariat. Sie war immer tüchtig und hat sich nicht geschont, erzählt sie. Aber die Arbeit – das war eben nur ein Teil ihres Lebens.
„Ich sehnte mich zwar nicht nach der Heimat, denn ich war zu klein, um mich bewusst nach ihr sehnen zu können. Aber auf Familientreffen wurde viel über Lichtenau gesprochen. Menschen wie uns – Flüchtlinge aus Ostpreußen – gab es in Baden-Württemberg viele. Wir trafen uns, pflegten unsere Bräuche. Wir hatten auch eine Volksmusikgruppe, in der ich tanzte und sang. Ich rezitierte auch Gedichte. An eines erinnere ich mich besonders.“
Vor allem die ersten drei Zeilen des Gedichts „Advent 1945“ sind Josefa besonders im Gedächtnis geblieben:
Vertrieben gehen wir/ Schritt für Schritt/ Vor uns Schnee und Straßenstaube.
So wie bei ihrer Mutter spielt die Kirche auch in ihrem Leben eine wichtige Rolle. In Stuttgart gründet sie einen katholischen Arbeitskreis und ist lange Zeit dessen Vorsitzende. Gelangweilt habe sie sich nie, sagt Josefa. „Ich habe viele interessante und wertvolle Menschen hier kennen gelernt. Ich kenne die Stadt gut und habe mich hier wohl gefühlt. Stuttgart war meine Stadt.“
Rückkehr
Das erste Mal fuhr Josefa 1987 zurück in ihre Heimat. Das war während einer Wallfahrt der Ermländer. Das Programm der Wallfahrt war so gestaltet, dass sie an einem Tag auch die Möglichkeit hatte, ihren Heimatort zu besuchen. Josefa fuhr also, als 47-Jährige, nach Lichtenau. Über 40 Jahre hatte sie ihr Heimatdorf nicht besucht. Der Besuch war für sie zwar eindrücklich gewesen. Aber damals dachte sie noch nicht daran, nach Lichtenau umzuziehen. Diese Idee entstand drei bis vier Jahre später, aber auch da noch ohne Konsequenzen.
Erst 2018, also mehr als 30 Jahre nach ihrem ersten Besuch, kam sie ein zweites Mal nach Lechowo. Und da kam es ihr dann doch sehr konkret in den Sinn, dass sie Stuttgart auch verlassen könnte. Selbst wenn es längst ihre zweite Heimat war. Die Idee, das Elternhaus zurückzukaufen, musste zwar sie schnell aufgeben. Denn es stand nicht zum Verkauf. Aber zum Verkauf stand dafür ein anderes Haus im Dorf, besser gelegen und kleiner. Josefa entschloss sich, es zu kaufen.
Lichtenau, das jetzt Lechowo heißt
Seit dem 3. Juni 2020 ist Josefa wieder eine Einwohnerin von Lichtenau.
Nur, dass Lichtenau jetzt Lechowo heißt und Josefa von den damaligen Einwohnern die einzige ist. Aus ihrer Wohnung in Stuttgart hat sie ein paar Möbel mitgenommen. Dann vor allem sehr viele Bücher, das elektrische Klavier und einen großen Vorrat an Optimismus. „Ich habe keine Angst vor dem Leben in einem kleinen Dorf. Ich kann mich an alle Bedingungen und verschiedene Menschen anpassen. Polen ist schließlich ein zivilisiertes Land und Mitglied der Europäischen Union. Und ich habe hier mein Ein-Personen-Königreich.
Anfangs hätten sich ihre Familie und ihre Bekannten zwar schon gewundert, erzählt Josefa. „Sie sagten, ich sei mutig, dass ich das riskiere. Sie haben aber meine Entscheidung akzeptiert.“ Josefa sagt, dass das Leben hier in Lechowo zwar nicht so komfortabel sei wie in Stuttgart. Aber sie sei gesund und habe auch schon einiges vor mit ihrem neuen Haus und vor allem dem neuen Garten.
„Und – ich habe den Blick auf meine Kirche, in der ich getauft wurde. Ich habe ihn mir verdient.
Ich habe Glück.“
Lech Kryszałowicz