Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Man wusste, auf wen man sich verlassen kann“ (+Video)

Der Unternehmer August Borsig gründet 1937 in Berlin die Arbeitersiedlung Borsigwerke. Als die Berliner Mitarbeiter Ende des 19. Jahrhunderts nach Oberschlesien umgesiedelt werden, entsteht auch hier eine solche Siedlung. Sie ist heute Denkmalzone.

Eigentlich sieht alles aus wie damals. Und doch wieder nicht. Henryk Jusczyksteht vor dem roten Backsteinhaus mit der Nummer drei, wo er am siebten August 1942 zur Welt kam, hier in der Siedlung Borsigwerkim oberschlesischen Hindenburg (Zabrze). Sein Blick streift die Häuser und Gärten. „Früher war mehr grün und es war sauber“, sagt der 79-Jährige. Schmierereien an den Hauswänden prägen heute das Bild der Siedlung und erinnern an die nur allzu dubiosen Viertel aus düsteren Fernsehkrimis.

 

Das Haus Nummer drei in der einstigen Ernststraße. Hier kam Henryk Jusczyk 1942 zur Welt.

Damals bewohnen die Eltern mit den insgesamt drei Kindern in der einstigen Ernststraße – Borsig benannte die Straßen nach seinen Söhnen – drei Zimmer im Giebel, die Großeltern haben eine Wohnung im Parterre. Ein altes Foto zeigt die Familie vor dem Wohnhaus, es verfügt, so wie auch die übrigen Borsig-Häuser, über einen markanten Treppenaufgang, wie man ihn aus dem New Yorker Stadtbild kennt. Ein kluger und notwendiger Hochwasserschutz, denn ein Fluss trenntdie Siedlung als den damals östlichsten zu Deutschland gehörenden Teil Oberschlesiens von Polen. Zu jener Zeit also, als dieser Teil Oberschlesiens zu Deutschland gehört, heißt Henryk noch Klaus-Dieter und die Welt befindet sich gerade in einem verheerenden Krieg. In weiten Teilen Schlesiens ist davon aber nichts zu merken, und so ist das Leben in der Siedlung zwar ein arbeitsreiches, aber doch ein zufriedenes. „Die Menschen haben jeden Tag zehn bis zwölf Stunden gearbeitet. Aber sie waren froh, dass sie Arbeit hatten, einen Wohnsitz und dass sie gut entlohnt wurden“, sagt Henryk Jusczyk.

Oberschlesien ist reiche Quelle für Rohstoffgewinnung

Einer der erstenBorsigwerk-Mitarbeiter aus Henryk Jusczyks Familie istAnfang des 20. Jahrhunderts der Großvater. Ihmfolgen die Söhne. Bis Ende des Zweiten Weltkrieges sind sie für den Berliner Unternehmer tätig. Für die Firmentreue gibt es sogar von Borsig persönlich eine Uhr als Geschenk.

Die Firma von August Borsig in Berlin ist Mitte des 19. Jahrhunderts ein sich rasant entwickelndes Unternehmen mit Schwerpunkt Lokomotivbau. Doch Rohstoffe sind knapp und das droht die Dynamik auszubremsen.
August Borsig beschließt deshalb, selbst Kohle abzubauen, um Stahl zu produzieren.Ideale Voraussetzungen dafür findet er Oberschlesien, einer Region mit großenSteinkohle-Vorkommen – wichtigfür die Eisenverarbeitung und Energieerzeugung.

1863 wird in Hindenburg(Zabrze) ein Eisen- und Stahlwerkerrichtet, und die fleißigsten Hüttenarbeiter, Schweißer und Schmiede werden mit ihren Familien aus Berlin nach Oberschlesien umgesiedelt. Dann werden kontinuierlichauchOberschlesier eingestellt.Sie alle leben in der eigens für sie erbauten Siedlung. 50 Backsteinhäuser in sechs Straßen auf einer Fläche von 19 Hektar.

Dieses Grab will Henryk Juszczyk in Ehren halten. Die Inschrift “Der Glaube tröstet, wo Liebe weint” am unteren Rand des Grabsteins, geht ihm besonders nah.

 

Die Arbeit schweißt zusammen

Der gemeinsame Arbeitgeber ist der Kitt zwischen den Anwohnern und das schafft in der Siedlung eine besondere Verbundenheit, berichtet Henryk Jusczyk: „Die Türen zum Flur standen meistens offen. Untereinander kannte man sich und wusste, auf wen man sich verlassen kann.“ Immer samstags wird der Hof gekehrt und nach getaner Arbeit finden sich die Menschen zu Gesprächen auf der Bank zusammen. Den „Bio-Müll“ sammeln die Nachbarn für das Schwein, von dem später jeder ein Stückchen abbekommt. Eine überschaubare Lebenswelt, nach der sich heute so mancher von Zerstreuung geplagte Großstädter sehnt. „So etwas gibt es nicht mehr, heute ist jeder für sich“, bedauert Henryk Jusczyk, er lebt mittlerweile mit seiner Frau in einem Hochhaus in Gleiwitz und kennt die Anonymität gut.

Die Siedlung ist heute Denkmalzone.

 

Auf die Berliner wird besonders Rücksicht genommen

Die Borsigwerk-Siedlung besteht aber nicht nur aus Wohnhäusern. Es gibt alles, was zum guten Leben dazu gehört: eine eigene Apotheke, ein Restaurant, eine Schule. Besonders berücksichtigt werden damals die Bedürfnisse der Berliner Anwohner. Im katholisch geprägten Oberschlesien bekommen sie eine evangelische Kapelle und einen evangelischen Friedhof.

Manchmal noch kommt Henryk Jusczyk hierher und entzündet ein Licht an einem der mittlerweile fast gänzlich verwahrlosten Gräber. „Der Glaube tröstet, wo die Liebe weint,“ ist auf dem Grabstein noch zu lesen. Ein Satz, der Henryk Jusczyk besonders nahe geht. Für ihn ist es nicht nur ein Licht des Andenkens, sondern auch des Trostes. Trost darüber, dass die einst prestigeträchtige Siedlung ihre besten Zeiten längst hinter sich hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt die Borsigwerk-Siedlung auf nun polnischem Gebiet weiterhin von Deutschen bewohnt. Sie werden als Facharbeiter gebraucht für die ehemaligen Borsig-Betriebe. Auch wenn nun Polnisch gesprochen wird, bleibt wenigstens im Privaten Deutsch die Hauptsprache. „Jeden Tag um 13:00 Uhr Radio Wien. Ungefähr auf einer Frequenz von 550Kiloherz“, erinnert sich Henryk Jusczyk ganz genau. „Da lief die Sendung ‚Autofahrer unterwegs‘. Die Leute haben das Radio aufgedreht, und bei offenem Fenster hat man die Musik in der ganzen Kolonie gehört.“
Erst Ende der 50er Jahre reisendie meistenAnwohner nach Deutschland aus, als sie endlich die Genehmigung dazu bekommen.Henryk Jusczyk, der in Folge von Polonisierungsmaßnahmen nicht mehr Klaus-Dieter heißen darf, bleibt zuerst noch hier, zieht nach seiner Hochzeit Ende der 60er Jahre aber doch fort.Die HindenburgerBorsigwerk-Siedlung ist heute als Denkmalzone in die Denkmalliste der Stadt eingetragen, hier leben jetzt vor allem Familien, die mit Borsig nichts mehr zu tun haben.

 

Text und Fotos: Marie Baumgarten

 

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