Es war ein wichtiger Termin im Leben von Rafał Kocięda aus Deutsch Eylau (Iława): Am 18. Februar stellte er im Konferenzsaal des örtlichen Kinos sein Modell des Marktplatzes seiner Heimatstadt in dessen Zustand im Jahr 1905 vor. An dem Modell im Maßstab 1:100 hat der Modellbauer und Liebhaber der regionalen Geschichte sechs Jahre lang gearbeitet. Das Ergebnis ist beeindruckend.
Was passiert, wenn zwei so unterschiedliche langjährige Interessen wie Modellbau und die lokale Geschichte aufeinandertreffen? Entweder eine davon geht unter oder es entsteht etwas ganz Besonderes – so wie bei Rafał Kocięda. Denn er ist beides: Modellbauer seit 40 und Liebhaber der lokalen Geschichte seit 23 Jahren. Die letzten sechs Jahre seines Lebens hat er einer schwierigen Aufgabe gewidmet: dem Bau eines Modells des Marktplatzes seiner Heimatstadt Deutsch Eylau, wie dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts, genauer gesagt im Jahr 1905, ausgesehen hat.
Impulse und Informationen
Den Anstoß für das jetzt entstandene, imposante (Modell-)Bauwerk erhielt Rafał Kocięda bei einer Dienstreise in den Süden Polens, wo im Hotel ein Modell der Krakauer Altstadt ausgestellt war, das er mit dem Blick eines Kenners bewunderte, weil er wusste, wie viel Arbeit darin stecken musste. Die anschließenden Fragen lauteten: Warum nicht auch Deutsch Eylau? Und was genau wollte er von der Stadt im Südwesten der Woiwodschaft Ermland-Masuren darstellen? Erste handschriftliche Gebäudeentwürfe auf Millimeterpapier wurden ihm zu ungenau, weshalb er dafür auf ein Computerprogramm umsattelte.
Die ganze Altstadt wäre zum einen zu umfangreich geworden, zum anderen sind nicht all ihre Elemente gleichmäßig gut ikonografisch dokumentiert. Oder anders gesagt: Historische Postkarten und Luftbilder als Datenbasis für die Darstellung gab es vor allem vom Marktplatz der Stadt. Der Dank von Rafał Kocięda geht dabei an seinen Kollegen Stanisław Baruchowski, der ihm sein Archiv für die detaillierten Vorarbeiten zur Verfügung gestellt hat.
Apropos Umfang: Auch das jetzt fertiggestellte Modell hat die Grundmaße 1,30 mal 1,35 Meter und hat in der Werkstatt des Modellbauers, wo er in der Bauzeit lange Abendstunden verbrachte, entsprechend Platz eingenommen. Neben der grundsätzlich bereits angespannten Lage durch die Coronapandemie strapazierte Rafał Kocięda sowohl mit dem engen Platz als auch mit seiner zeitaufwendigen Arbeit die Geduld seiner Verlobten Asia, wie er im Gespräch mit der „Gazeta Olsztyńska“ zugab – und ihr für ihre Unterstützung einen großen Dank aussprach.
Corona, korona, koronkowa…
Warum aber gerade das Jahr 1905? „Das Jahr habe ich bewusst gewählt, denn das war die ‚Belle Époque‘ mit ihrer Verbindung von Funktionalität und Schönheit auch in der Architektur“, erklärte Rafał Kocięda im Interview mit dem Fernsehsender TVP3. „Außerdem gibt es aus dieser Zeit viele Postkarten als Vorlage für das Aussehen des Marktplatzes.“ Denn es handelt sich um ein sogenanntes reduzierendes Modell: die möglichst detailgetreue Darstellung eines bestimmten Objekts für einen bestimmten Maßstab. Und wie Rafał Kocięda schon vor 40 Jahren von seinem Patenonkel eingetrichtert bekam: wenn schon, dann richtig. Ein „nur“ gutes Modell zu bauen, kam für ihn nicht infrage.
Dafür hat sich Rafał Kocięda eine korona, eine Krone, verdient. Auch wenn der Maßstab 1:100 nicht ganz an die Nenngröße H0 für Modelleisenbahnen (Maßstab 1:87) herankommt, forderte das Ganze vom Modellbauer eine große Detailtreue. In Einzelanfertigung entstanden über 30 Gebäude aus Papier, das zu über 95 Prozent als Baumaterial diente; dabei lassen sich Gesimse, Vorhänge, Türklinken, Reklame- und Straßenschilder sowie eine öffentliche Uhr genauso gut erkennen wie der Fahnenmast auf dem Platz und der Baum vor dem Biergarten des Hotels „Zum Kronprinzen“. Eine besondere Kleinarbeit und meisterhaft (also „koronkowe“) ist die Oberfläche des Marktplatzes: Die Pflastersteine fertigte Rafał Kocięda aus 1,7 Kilogramm Aquariumkies an und setzte dafür, wie die früheren Straßenbauer, Stein für Stein – der mit Abstand arbeitsintensivste Teil.
In welcher kulturellen Einrichtung das Modell zu sehen sein wird, hatte Rafał Kocięda bei der Präsentation nach Information von TVP3 noch nicht entschieden. Über sein nächstes Projekt schon – es wird ein weiteres Buch zur Geschichte Deutsch Eylaus geben. Denn das Interesse an der Stadtgeschichte nimmt weiter zu.
Uwe Hahnkamp