Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

„Musterfall der Diskriminierung“

Am heutigen Donnerstag (06.10.) hatten vier hochrangige Vertreter der deutschen Minderheit in Polen einen wichtigen Termin im Europäischen Parlament in Straßburg. Vor den Mitgliedern der interfraktionellen Arbeitsgruppe für traditionelle Minderheiten, nationale Gemeinschaften und Sprachen machten sie auf die derzeitige Diskriminierung der deutschen Volksgruppe in Polen aufmerksam – und brachten ihre Enttäuschung über die Untätigkeit der Europäischen Institutionen in dieser Frage zum Ausdruck.

Wollte man das Interesse der EU-Abgeordneten an der aktuellen Diskriminierung der deutschen Minderheit in Polen messen, dann käme man angesichts der spärlich besetzten Reihen im Raum S 2.2 des Europäischen Parlaments in Straßburg am heutigen Donnerstag zu einem klaren Ergebnis: Das Interesse ist offensichtlich gering.

Nichtsdestotrotz nahmen die Spitzen eben jener deutschen Minderheit die Gelegenheit wahr, den anwesenden – und eventuell online zuschauenden – EU-Parlamentariern und Mitgliedern der interfraktionellen Arbeitsgruppe für traditionelle Minderheiten, nationale Gemeinschaften und Sprachen des EU-Parlaments über die Hintergründe und Folgen der Reduzierung der wöchentlichen Unterrichtsstunden in Deutsch als Minderheitensprache an polnischen Schulen zu berichten. Eigens zu diesem Zweck nach Straßburg gereist waren Rafał Bartek, Vorsitzender des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG), Joanna Hassa, Geschäftsführerin des VdG, sowie Michał Schlueter, einer der drei VdG-Vizevorsitzenden. Mit dabei war zudem Bernard Gaida, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten (AGDM) in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN). Geleitet wurde die Sitzung vom FUEN-Präsidenten und EU-Abgeordneten Loránt Vincze.

Bernard Gaida, Michał Schlueter, Rafał Bartek, Łukasz Kohut und Joanna Hassa (v. l.) am Donnerstag (06.10.) im EU-Parlament in Straßburg
Foto: Joanna Hassa

„Wir sind zutiefst enttäuscht“
In einigen einleitenden Worten betonte Bernard Gaida, dass die deutsche Minderheit in Polen von der polnischen Regierung in der Frage der Diskriminierung seit Monaten „völlig ignoriert“ werde. Deshalb sei es „umso wichtiger, dieses Problem auf europäischer Ebene zu besprechen“. Man erwarte in dieser Angelegenheit eine Reaktion vonseiten der Europäischen Institutionen, so Gaida. Der AGDM-Sprecher, der kürzlich auch zu einem der Vizepräsidenten der FUEN gewählt wurde, hob zudem hervor, dass die aktuelle Diskriminierung in Polen zwar die deutsche Volksgruppe betreffe; allerdings wachse „die Angst vor Diskriminierung und Ausgrenzung auch in anderen Minderheiten“.

Rafał Bartek ließ jene „unerklärliche und unfassbare“ Diskriminierung der deutschen Minderheit in Polen sodann Revue passieren – angefangen bei den ersten Schwierigkeiten im Jahr 2018 über die antideutsche Rhetorik aus Teilen des rechten Spektrums der polnischen Politik bis hin zur letztendlichen Verordnung des Bildungsministers vom 4. Februar 2022, in deren Folge ausschließlich der deutschen Minderheit der Schulunterricht in ihrer Muttersprache von drei auf eine Stunde in der Woche gekürzt wurde. Seit dem 4. Februar dieses Jahres seien deshalb nicht mehr alle Menschen in Polen vor dem Gesetz gleich, sagte Bartek mit Blick auf die Benachteiligung der Schülerinnen und Schüler aus den Reihen der deutschen Minderheit.

Der VdG-Vorsitzende Rafał Bartek während der Präsentation im EU-Parlament
Foto: Lucas Netter

Der VdG-Vorsitzende berichtete außerdem über verschiedene Initiativen in Form von Petitionen, Protesten und Stellungnahmen zur Unterstützung der deutschen Minderheit und verwies auf wissenschaftliche Gutachten, die den offensichtlichen Rechtsbruch der polnischen Regierung bestätigten. Er sprach darüber hinaus die Klage an, die der VdG bei der Europäischen Kommission eingereicht hat – und bedauerte, dass man bis heute keine Antwort darauf erhalten habe. „Wir sind [darüber] zutiefst enttäuscht, weil wir der Meinung sind: Hier geht es um junge Europäer. Hier geht es um Kinder, die im 21. Jahrhundert inmitten von Europa diskriminiert und stigmatisiert werden“, so Bartek. Und weiter: „Wir verstehen es als Europäer nicht, wir verstehen es als loyale Bürger Polens nicht, wir verstehen es als loyale Vertreter einer nationalen Minderheit nicht, dass sich Europa überhaupt nicht dafür interessiert. Das ist unser Empfinden in der aktuellen Situation. Es geht um 50.000 Kinder, die davon betroffen sind. Diesen 50.000 Kindern wird gerade aktuell [seit] dem 1. September (seit dem Beginn des neuen Schuljahrs in Polen, Anm. d. Red.) gesagt: ‚Ihr seid schlechtere Bürger Polens, ihr seid weniger wert, eure Sprache und Kultur ist uns weniger wert als die Sprache und Kultur von anderen Minderheiten, die in Polen leben‘.“

Es gehe in dieser Frage nicht um die Bildungshoheit des polnisches Staates, sondern „es geht um Minderheitenrechte – und in diesem Fall konkret um Menschenrechte“, unterstrich Bartek. So gesehen sei das aktuelle Schuljahr „das erste Jahr in der Geschichte des freien Polens nach 1989, in dem die polnischen Staatsbürger deutscher Nationalität strukturell diskriminiert werden“. Wenn man jetzt nichts unternehme und die Augen vor der Diskriminierung weiter verschließe, werde diese nur weiter wachsen, schloss Rafał Bartek seine Ausführungen.

Die VdG-Geschäftsführerin Joanna Hassa ergriff ebenfalls das Wort.
Foto: Lucas Netter

Die VdG-Geschäftsführerin Joanna Hassa ergänzte, dass die aktuelle Situation sowohl für die von der Verordnung betroffenen Kinder als auch für ihre Eltern und Lehrer „vollkommen unverständlich“ sei. Man erwarte in dieser Frage Klarheit und ein entschlossenes Handeln der EU.

Michał Schlueter fügte noch hinzu, dass es „so eine klare Diskriminierung“ in der Geschichte der EU zuvor noch nicht gegeben habe. „Da müssen wir schneller reagieren, denn dies kann sich weiterverbreiten auf andere Minderheiten in Europa”, so der Vertreter der deutschen Minderheit aus Ermland und Masuren.

„Dieser Fall muss an die große Glocke gehängt werden“
Als Reaktion auf das Gehörte bekundete Loránt Vincze der deutschen Minderheit in Polen die Unterstützung der interfraktionellen Arbeitsgruppe und betonte, dass es wichtig sei, dafür zu sorgen, dass der Beschluss der polnischen Regierung zurückgenommen wird. „Es braucht Schreiben, Sitzungen, Pressekonferenzen, eine Petition“, so der FUEN-Präsident. Er finde es „überraschend“, dass die Europäischen Institutionen darauf „noch nicht wirklich reagiert“ hätten – vor allem nicht die EU-Kommission.

François Alfonsi, einer der Vorsitzenden der interfraktionellen Arbeitsgruppe, bezeichnete das Ganze als einen „Musterfall der Diskriminierung“ mitten in Europa – ohne dass die Europäischen Institutionen eine Reaktion zeigten. Er schlug deshalb vor, im Namen der Intergruppe ein Schreiben an die EU-Kommission zu richten – inklusive der Unterschrift der Präsidentin des EU-Parlaments. Denn dieser einzigartige Fall „in unserer europäischen Welt“ müsse „an die große Glocke gehängt“ werden. „Es darf nicht so einfach nur in Polen ein Geheimthema bleiben“, bekräftigte er. Darüber hinaus sollte sich auch der Petitionsausschuss des EU-Parlaments mit dem Thema befassen und eine Diskussion darüber anstoßen. „Wir stehen solidarisch mit Ihnen“, versicherte François Alfonsi den Minderheitenvertretern.

Michał Schlueter, Joanna Hassa, Loránt Vincze, Bernard Gaida und Rafał Bartek (v. l.)
Foto: Joanna Hassa

Aus den Reihen der Zuhörer meldete sich auch der EU-Abgeordnete Łukasz Kohut von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) zu Wort. Er betonte, dass man angesichts der Diskriminierung der deutschen Minderheit in Polen die EU-Kommission auch gemäß Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, Anm. d. Red.) kontaktieren sollte. „Denn die Europäische Union steht für die Hochhaltung der Menschenrechte und auch der Minderheitenrechte“, so der EU-Parlamentarier aus Schlesien.

Zum Ende der Sitzung übernahm noch mal Rafał Bartek das Wort und brachte einmal mehr seine Hoffnung auf ein tatsächliches Interesse der Europäischen Union an der Lage der deutschen Minderheit in Polen zum Ausdruck: „Die größte Gefahr, die wir sehen, ist, dass man sich daran gewöhnt, dass einer anders betrachtet wird. Aber man darf sich nicht daran gewöhnen. Denn es geht hier um die nächste Generation der Europäer. Wenn wir diese nächste Generation so erziehen, dass einer weniger wert ist als der andere – und das noch in der EU –, dann geben wir zu, dass etwas nicht funktioniert, dass Grundsätze der EU nicht funktionieren. Deshalb hoffe ich, dass das Interesse des Europäischen Parlaments und der Kommission geweckt wird – für diese Situation, in der wirklich Menschenrechte verletzt wurden.“

Lucas Netter

Show More