Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Nichts verdrängen, nichts beschweigen“

Am 22. März luden das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit (HDPZ) und die Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland zu einer Autorenlesung in den Oppelner Sejmik ein. Zu Gast waren die beiden deutschen Journalisten Werner Sonne und Thomas Kreutzmann, die ihr Buch „Schuld und Leid“ vorstellten. In dem Werk beschäftigen sich die Autoren mit dem komplexen Thema von Flucht und Vertreibung ab 1945 – und ziehen Parallelen zur aktuellen Situation in der Ukraine.

Am späten Mittwochnachmittag vergangener Woche ist die Oppelner Altstadt in ein goldenes Sonnenlicht gehüllt, die ersten warmen Frühlingstemperaturen des Jahres locken die Menschen an die frische Luft, vereinzelt wird sogar schon Eis geschleckt. Es herrscht eine beschwingte Atmosphäre auf den Straßen – die einen auffälligen Kontrast bildet zu dem gemeinhin mit Kälte, Dunkelheit und traumatischen Erlebnissen in Verbindung gebrachten Thema jener Lesung, die an diesem Abend im „Sala Orła Białego“ des Oppelner Sejmiks stattfindet. Es geht um Flucht und Vertreibung ab 1945, also um ein historisches Phänomen, hinter dem sich unzählige bedrückende Einzel- und Familienschicksale verbergen und das sich ins kollektive Gedächtnis der sogenannten Erlebnisgeneration eingebrannt hat. Im Kontext des Krieges in der Ukraine gewinnt dieser Themenkomplex zudem wieder an Aktualität.

So hatten also die beiden deutschen Journalisten Werner Sonne und Thomas Kreutzmann den Weg nach Oppeln gefunden und auf dem Podium des Sejmik-Plenarsaals Platz genommen, um aus ihrem bereits im vergangenen Jahr veröffentlichten Buch „Schuld und Leid – Das Trauma von Flucht und Vertreibung 1945-2022“ zu lesen. Die Jahreszahlen im Untertitel des 350-Seiten-Werks lassen bereits erkennen, dass die Autoren nicht nur die Geschehnisse um 1945 behandeln, sondern auch die aktuellen Flucht- und Vertreibungsbewegungen in den Blick nehmen.

Cover des Buches „Schuld und Leid“ von Thomas Kreutzmann und Werner Sonne
Foto: Mittler im Maximilian Verlag GmbH & Co. KG

„Wir sind das Tätervolk“

„Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart; wer sich der Unmenschlichkeiten nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren“, zitieren die beiden Journalisten zu Beginn ihrer Lesung den einstigen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.

Werner Sonne (links) und Thomas Kreutzmann im Oppelner Sejmik
Foto: Lucas Netter

Diese Auffassung habe bis heute Gültigkeit, betont Werner Sonne, der früher unter anderem als Auslandskorrespondent der ARD in Warschau tätig war: „Wir Deutschen müssen uns der Vergangenheit stellen, mit allen ihren tiefen Brüchen und Schmerzen – und gerade auch im Verhältnis zu unseren Nachbarn im Osten. Und wenn man einen roten Faden für dieses Buch sucht, dann ist es der: Nichts verdrängen, nichts beschweigen – und schon gar keinen Schlussstrich [ziehen].“

Für die Deutschen gelte dies im besonderen Maße: „Wir sind das Tätervolk“, stellt Sonne klar. „Aber: 14 Millionen Deutsche wurden auch zu Opfern, sie verloren ihre Heimat, Hunderttausende kamen um“, fügt er hinzu. Aus ebendiesem Grund behandele das Buch neben der Schuld auch das Leid der Deutschen.

Die beiden Autoren Thomas Kreutzmann und Werner Sonne mit Konsul Peter Herr, Ryszard Galla, Lucjan Dzumla, Krzysztof Ruchniewicz und Hartmut Koschyk (v. l.)
Foto: Lucas Netter

„Wir versuchen, einen modernen Blick auf die Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa zu werfen“, sagt auch Thomas Kreutzmann. „Und wir betonen immer wieder: Dieser Verlust der Heimat, des Eigentums und manchmal auch des Lebens, oft aber auch der körperlichen und seelischen Gesundheit ist die Folge der Verbrechen des Deutschen Reiches unter Hitler. Ohne den deutschen Angriff auf Polen und ohne all die Versuche, die Menschen in Polen zu unterdrücken und zu Sklaven zu machen, hätte es auch nicht Flucht und Vertreibung der Deutschen gegeben.“

Der Historiker Krzysztof Ruchniewicz (Mitte) im Gespräch mit Thomas Kreutzmann (links) und Werner Sonne
Foto: Lucas Netter

Dennoch beschäftige man sich in dem Buch „ganz bewusst auch mit dem seelischen Leid, das Flüchtlinge und Vertriebene erleiden mussten“. Es seien nicht alle Deutschen Nationalsozialisten gewesen, es seien nicht alle Deutschen Täter gewesen, so der Journalist, der Anfang der 1990er-Jahre für die ARD aus Prag berichtete.

„Dieses Bild ist zeitlos“

Auch zum aktuellen Krieg in der Ukraine wird in dem Buch – das keine wissenschaftliche Arbeit ist, sondern auf journalistischen Einschätzungen basiert – der Bogen geschlagen. Dies wird schon an seinem Titelbild deutlich, das eine Ukrainerin zeigt, die um ihren Sohn weint, der im April 2022 in Butscha bei Kiew von russischen Soldaten ermordet wurde. Wie Werner Sonne hervorhebt, sei dieses Foto im Grunde genommen zeitlos: „Es könnte auch am Ende des Zweiten Weltkrieges eine Polin, eine Tschechin, eine Sudetendeutsche oder eine Schlesierin zeigen.“

Während der Lesung im Oppelner Sejmik
Foto: Lucas Netter

Weiter erklärt er: „In Deutschland haben die Bilder vom russischen Angriffskrieg in der Ukraine und von der Flucht von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern nach Westen bei sehr vielen Menschen Erinnerungen an Flucht und Vertreibung ausgelöst. Bei manchen sehr alten Menschen aus der Erlebnisgeneration brachen wieder regelrechte Traumata aus, die der psychoanalytischen Betreuung bedürfen. Es sind übrigens Traumata aus Kriegserfahrungen, die sich oftmals auf folgende Generationen von Vertriebenenfamilien übertragen.“

Nicht zuletzt betonen die Autoren in ihrem Werk zudem, dass nicht nur Deutschland, sondern auch Polen nach dem Zweiten Weltkrieg ein Vertriebenenproblem hatte. „Fast zwei Millionen Polen mussten ihre Heimat im Osten ebenfalls verlassen – eine Tatsache, die bei vielen bei uns in Deutschland nicht bekannt ist“, so Werner Sonne.

„Große Rückschritte“

Im weiteren Verlauf der Lesung wird diese um ein von Lucjan Dzumla, dem Geschäftsführer des Hauses der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit, moderiertes Podiumsgespräch mit Professor Krzysztof Ruchniewicz vom Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Breslau erweitert. Der Historiker spricht in seinen Ausführungen unter anderem von einem „ganz großen Rückschritt“, den man derzeit in Polen beobachten könne – und zwar zurück in jene Zeiten, in denen man das Thema der Vertreibung der Deutschen bagatellisiert habe. Heute spreche man vermehrt – und dies werde zum Teil auch in polnischen Schulbüchern so formuliert – nicht von „Vertreibungen“, sondern davon, dass die Deutschen in ihre Heimat „zurückgefahren“ seien, berichtet Ruchniewicz.

Lucjan Dzumla (rechts) moderierte die Podiumsdiskussion mit Werner Sonne, Thomas Kreutzmann und Krzysztof Ruchniewicz
Foto: Lucas Netter

Zum Schluss der etwa zweistündigen Veranstaltung, die unter der Schirmherrschaft des Sejmik-Vorsitzenden Rafał Bartek steht, wendet sich auch Hartmut Koschyk, der Vorsitzende des Stiftungsrates der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland, an die Anwesenden. „Was dieses Buch von vielen anderen Büchern über die Vertreibungen unterscheidet, ist, dass es ein Werk von Journalisten ist, die mit journalistischer Objektivität versuchen, Aufklärung zu leisten in einer Sprache, die nicht nur für Historiker und Akademiker geschrieben ist, sondern weite Bevölkerungskreise erreichen soll“, sagt der frühere Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Ihm sei an diesem Buch von Anfang an positiv aufgefallen, dass es „eben nicht eine Zeit ausblendet, nämlich bei 1950 endet und 1989/90 wieder hineinspringt“, sondern dass es „auch ein Stück die Nachkriegsgeschichte gerade der deutschen Minderheit in Polen erzählt.“

Hartmut Koschyk, Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland
Foto: Lucas Netter

Lucas Netter

Schuld und Leid – Das Trauma von Flucht und Vertreibung 1945-2022
Autoren: Werner Sonne, Thomas Kreutzmann
Herausgeber: Mittler im Maximilian Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsdatum: 4. Oktober 2022
Sprache: Deutsch
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-3-8132-1117-7

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