Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Paradies am Ende der Welt

Am 3. März lud das in Oppeln beheimatete Dokumentations- und Ausstellungszentrum der Deutschen in Polen (DAZ) zur Auftaktveranstaltung seiner interkulturellen Gesprächsreihe „Minderheiten im Dialog“ ein. Erster Gast war der Journalist Gerald Gräfe, ein Nachkomme der heute nicht mehr existierenden Volksgruppe der Lebakaschuben.

Im Veranstaltungssaal des DAZ herrscht am späten Freitagnachmittag vergangener Woche ein dichtes Gedränge, hektisch werden noch freie Plätze gesucht, die Mitarbeiter des Zentrums schaffen kurzerhand noch zusätzliche Stühle heran. Mit so einem großen Andrang hatten die Organisatoren des ersten Treffens im Rahmen der interkulturellen Gesprächsreihe „Minderheiten im Dialog“ wohl nicht gerechnet. An die 50 Interessierte hatten den Weg ins DAZ gefunden – und zwar nicht, um sich über die Historie der deutschen Minderheit in Polen zu informieren (jedenfalls nicht direkt), sondern um den Ausführungen eines extra aus Deutschland angereisten Gastes mit lebakaschubischer Familiengeschichte zu lauschen.

Und so blicken an diesem windig-kalten Märztag die zahlreichen Anwesenden gespannt auf Gerald Gräfe, der vor dem Publikum Platz genommen hatte. Der hochgewachsene Journalist aus dem Mecklenburgischen ist ein Nachfahre der mittlerweile „ausgestorbenen“ Volksgruppe der Lebakaschuben, auch Slowinzen genannt, jenes westslawischen Volkes, das einst an der Ostseeküste in Hinterpommern lebte. Ihr Siedlungsgebiet lag entlang des Flusses Leba (Łeba) in Pommern, zwischen dem gleichnamigen Badeort Leba (Łeba) und der Stadt Stolp (Słupsk).

Gerald Gräfe im DAZ
Foto: Lucas Netter

Wie die Moderatorin der Veranstaltung, die bekannte Filmproduzentin, Regisseurin und Übersetzerin Alicja Schatton-Lubos, zu Beginn des Gesprächs verrät, hat Gerald Gräfe seine Präsentation „Von der Suche nach einem Stück Heimat – oder die Reise ans Ende der Welt, wo ein Paradies beginnt“ getauft. Dieses Paradies am Ende der Welt, das ist für Gerald Gräfe das Dorf Klucken (Kluki) am Lebasee (Jezioro Łebsko) in der Woiwodschaft Pommern. Dort liegen seine familiären Wurzeln, dort lebten seine Vorfahren über viele Generationen hinweg als Fischer – und von dort wurden sie 1947 fast alle vertrieben. Dieser Landstrich sei bis um das Jahr 1920 nicht an das Straßennetz angebunden gewesen und liege daher bis heute sehr einsam, erklärt Gräfe. „Und deshalb hat sich in dieser Gegend eine Volksgruppe erhalten, die ihre Sprache über Jahrhunderte gerettet hat – die sogenannten Lebakaschuben.“

Gerald Gräfe, der bereits in Deutschland (in der DDR) geboren wurde, schildert, wie er früher fasziniert zuhörte, wenn seine Verwandten über die alte Heimat sprachen – und wie dies seine Neugier auf diese für ihn damals noch unbekannte Region weckte. „Ich bin zwar in Mecklenburg aufgewachsen, aber als ich 40 Jahre nach der Vertreibung meiner Familienmitglieder, am 31. Juli 1987, das erste Mal in das Land meiner Vorfahren kam, war die Gegend sofort ein Paradies für mich, ich fühlte mich sofort zu Hause“, erzählt er – und fügt hinzu: „Ich kam nicht mehr weg von Klucken und bin jedes Jahr, teilweise mehrmals, dorthin gefahren.“

Gerald Gräfe im Gespräch mit Alicja Schatton-Lubos
Foto: Bogna Piter/DAZ

Später begann er, die Geschichte des Ortes, seiner Bewohner und seiner Familie zu erforschen, sichtete historische Quellen und Unterlagen, schrieb alles auf. „Meine Vorfahren sind um das Jahr 1730 als deutsche Bauern nach Klucken gekommen und haben dort bis 1947 gelebt“, erklärt Gerald Gräfe den Zuhörern im DAZ.

Der Journalist spricht auch über die Vertreibungen von etwa der Hälfte der Bewohner Kluckens in den ersten beiden Jahren nach Zweiten Weltkrieg, von der „Reslawisierung“ der verbliebenen lebakaschubischen Bevölkerung des Dorfes seitens der Behörden in der Volksrepublik Polen, von dem 1963 vor Ort eingerichteten Freilichtmuseum „Muzeum Wsi Słowińskiej“ sowie von den späteren Ausreisewellen der letzten Einwohner in die Bundesrepublik.

Fachwerkhaus im Freilichtmuseum von Klucken
Foto: T.D./wikimedia.org

Heute leben keine Lebakaschuben mehr in Klucken. Aber Gerald Gräfe sorgt mit seinem Engagement dafür, dass die Geschichte dieser Volksgruppe in der Region nicht in Vergessenheit gerät.

Lucas Netter

Minderheiten im Dialog
Die interkulturelle Gesprächsreihe „Minderheiten im Dialog“ ist ein Projekt des DAZ, das von der dort tätigen Kulturmanagerin des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), Dr. Maria Stolarzewicz, erdacht wurde. Im Rahmen des Projekts finden in den Räumlichkeiten des DAZ mehrere Gespräche mit Persönlichkeiten aus den Reihen verschiedener nationaler, ethnischer, kultureller und religiöser Minderheiten statt. Die nächsten Treffen wird es am 21. April und am 13. Juni geben. An diesen Terminen werden ein Lemke und eine Jüdin ihre Kultur und Traditionen vorstellen.

Die Aufzeichnung des Gesprächs mit Gerald Gräfe können Sie hier sehen: https://fb.watch/j9kAjInBRd/

Titelfoto: Bogna Piter/DAZ
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