Gebäude sind stumme Zeugen vergangener Tage. Während die einen uns stets von einer Funktion berichten könnten, haben andere sehr unterschiedliche Gäste beherbergen dürfen. Zu den zweiten gehört sicherlich die ehemalige Königliche Baugewerkschule in Kattowitz, in der sich heute die Musikakademie befindet.
Kaum eine oberschlesische Stadt entwickelte sich im 19. Jahrhundert so rasant wie Kattowitz. Gebaut wurde alles – von Industriebetrieben, Bürgerhäusern bis hin zu öffentlicher Infrastruktur jeglicher Art. Zugleich erlebte das Bildungsangebot eine erhebliche Verbesserung, wofür sich insbesondere der Kattowitzer Bürgermeister August Schneider (1890-1902) einsetzte. Dazu gehörte die Gründung der Königlichen Baugewerkschule. Diese bildete Baumeister in den modernsten Bautechniken aus. Ein Vorteil für viele Schüler war, dass, anders als an den Technischen Hochschulen, kein Abitur von den Schülern verlangt wurde.
Architektonisches Kunststück
Für die Baugewerkschule entstand nach Plänen des Stadtbaurates Albert Weiss zwischen 1899 und 1901 in der heutigen Wojewódzka-Straße 33 ein neugotischer Bau. Das vierstöckige Backsteingebäude ist an der Vorderfassade reichlich verziert. Über dem Haupteingang befindet sich eine Balkonbalustrade und darüber eine Reihe von Stichbogen gekrönter Fenster. Das Ganze wird durch die Ziergiebel mit zwei Türmen abgeschlossen. Zwischen diesen befindet sich ein Mosaik mit dem Stadtwappen von Kattowitz. Im Inneren beeindruckt insbesondere die Aula. An ihrem Nordende befinden sich große dreiteilige Fenster, die mit zeitgenössischen Glasmalereien dekoriert sind. Die Seitenwänden sind mit Holzvertäfelungen und Wandmalereien des Breslauer Malers Emil Noellner geschmückt, die zwischen 1901 und 1904 entstanden. Darauf zu sehen sind u. a die Heilige Hedwig von Schlesien sowie vier wichtige Beispiele schlesischer Architektur: das Schloss von Oels/Oleśnica, die Schrotholzkirche aus Mikutschütz/Mikulczyce, das Breslauer Rathaus und das Kämmereigebäude in Neisse. Die Wandmalereien wurden vor ca. 10 Jahren bei Renovierungsarbeiten unter einer Schicht weißer Farbe wiederentdeckt und detailliert rekonstruiert. Der heute nach Bolesław Szabelski, einem hier vor und nach dem Zweiten Weltkrieg tätigen Orgel- und Kompositionslehrer, benannter Saal wird von einem Netzgewölbe gekrönt.
Kaum eine oberschlesische Stadt entwickelte sich im 19. Jahrhundert so rasant wie Kattowitz.
Wechselnde Funktionen
Bei der Funktion als Baugewerkschule sollte es jedoch nicht bleiben. Im Ersten Weltkrieg wurde ein Teil des Gebäudes als Lazarett benutzt. Eine ganz neue Dynamik entstand durch die Grenzverschiebung 1922. Kattowitz wurde nun nicht nur Teil Polens, sondern auch Hauptstadt der autonomen Woiwodschaft Schlesien. Einerseits führte dies zur Verlegung der Baugewerkschule in das deutsch gebliebene Beuthen, andererseits übernahmen die neuen Woiwodschaftsbehörden das Gebäude. In der Aula tagte ab September 1922 sogar das schlesische Parlament. Fotos der Sitzungen sollten sich Jahrzehnte später als höchst hilfreich bei der Rekonstruktion der Aula erweisen.
Die politischen Funktionen wurden 1929 in das neue Gebäude des schlesischen Parlaments verlegt. Die ehemalige Gewerkschule beherbergte nun das neue Staatliche Musikkonservatorium, das im September 1929 eröffnet wurde. Dieser wohnten sogar der Woiwode und der Kattowitzer Bischof bei, um die Bedeutung als wichtigste musikalische Bildungsanstalt der autonomen Woiwodschaft zu unterstreichen. 1934 wurde es in Schlesisches Musikkonversatorium umbenannt.
Mit dem Einmarsch der Wehrmacht im September 1939 wurde das polnische Musikkonversatorium durch die deutsche Höhere Landesmusikschule ersetzt. Leiter wurde der aus Neustädtel/Nowe Miasteczko (Woiwodschaft Lebus) stammende, aber in der Zwischenkriegszeit als Komponist und Organist der Auferstehungskirche in Kattowitz tätige Fritz Lubrich. Dass Lubrich, der schon 1936 in die NSDAP eingetreten war, hohes Ansehen genoss, davon zeugt auch seine Aufnahme in die Gottbegnadeten-Liste im August 1944. Künstler auf dieser Liste, u. a. die berühmten Schauspieler Hans Albers und Heinz Rühmann, wurden von Propagandaminister Joseph Goebbels als so wichtig für den Kulturbetrieb erachtet, dass sie vom Dienst in der Wehrmacht befreit waren.
Mit dem Ende des Weltkriegs wurde auch das Musikkonversatorium reaktiviert, wobei es nun zur Staatlichen Höheren Musikschule umbenannt wurde. Mit der Zeit gewann sie Renomée und wurde 1979 zur Musikakademie.
Ein Besuch in der Kattowitzer Musikakademie lohnt sich nicht nur wegen der spannenden Architektur und des Schlesischen Orgelmuseums, sondern auch wegen der eintrittsfreien Konzerte. Es würde mich nicht wundern, wenn die alte Baugewerkschule nach der Nutzung von Bautechnikschülern und Politikern ganz zufrieden wäre, nun angehende Musiker beherbergen zu dürfen. Fun Fact: Die alte Gewerkschule wird als so wichtiges Baudenkmal anerkannt, dass ein gegenüber errichteter Neubau ein riesiges Fenster hat, sodass Zugfahrende durch dieses hindurch einen Blick auf die Musikakademie werfen können.
Martin Wycisk