Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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500 DM verloren, aber ein neues Leben gewonnen

Foto: Łukasz Biły
Foto: Łukasz Biły

Zur Wendezeit 1990/91 saß ich noch einmal auf der „Schulbank“ in einem der  Hörsäle der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg – eigentlich in einem Alter, wo man als Lehrerin nach 32 Schuldienstjahren langsam an die Rente denkt. Für 500 DM konnte man eine Weiterbildung für das Fach „Sozialkunde“ absolvieren.

 

Kaum Interesse

 

Als in einer der Vorlesungen zur deutschen Außenpolitik auch die erst kürzlich abgeschlossenen deutsch-polnischen Verträge behandelt wurden, wo u.a. auch die Minderheitenpolitik eine Rolle spielte sowie von gemeinsamen deutsch-polnischen Maßnahmen in den Bereichen Kultur und Bildung und von der Entsendung von Lehrern die Rede war, interessierte mich das kaum. Aber das sollte sich ändern, nachdem ich einer Einladung von Frau Dr. Hartwig ins Kultusministerium in Magdeburg gefolgt war. Im ehemaligen „Haus des Lehrers“ wurde ich zum „Studienabbrecher“ und tauschte die gezahlten Studiengebühren von 500 DM gegen ein neues Leben ein.

 

Hier erfuhr ich, dass ich für ein Jahr nach Polen gehen und dort an einem Projekt  mitarbeiten sollte, das die Wiedereinführung des muttersprachlichen Deutschunterrichts für deutsche Kinder nach über 45-jährigen Verbots zum Inhalt hatte. Grundlage dafür waren die neuen deutsch-polnischen Verträge, deren Kopie ich noch vor einigen Wochen achtlos zur Seite gelegt hatte. Zum damaligen Zeitpunkt wurde schulischer Deutschunterricht schon überall in Polen angeboten, nur nicht in den Gebieten, wo die deutsche Minderheit lebte.

 

Polnische “Vorgeschichte”

 

Für meine Eignung hatte gesprochen, dass ich zehn Jahre nebenberuflich als Sprachmittler für polnische Vertragsarbeiter der Krakauer Firma Nafta Budowa im damaligen VEB CKB in Bitterfeld tätig war. Ich erhielt eine „glänzende“ Beurteilung meines Freundes Zygmunt, der damals  Kulturdirektor war. Für seine patriotische Arbeit in den Jahren von 1939 bis 1945, als er in Krakau die Heimatarmee unterstützte, war er für die zuständigen polnischen Stellen glaubhaft. Außerdem war ich keine Heimatvertriebene, hatte keine verwandtschaftlichen Beziehungen nach Schlesien, ja ich hatte bis 1990 nur sehr wenig über dieses Land gehört. Von Vorteil war auch, dass ich über 30 Jahre Berufserfahrung als Lehrerin verfügte.

 

Die Formalitäten für die Aufnahme der Tätigkeit in Polen waren schnell erledigt und die geschockte Familie ließ sich beruhigen, denn was ist schon ein Jahr im Leben eines Menschen – dass es bis heute 25 Jahre werden würden, habe ich damals nicht geahnt.

 

Hallo Schlesien

 

Am 1. November 1991 sollte mein Dienst an der Grundschule Wengern (Węgry ) in der Gemeinde Turawa  beginnen. Turawa, nie gehört, selbst die deutsche Fachberaterin in Warschau war bezüglich der geografischen Zuordnung ratlos. Ein gerade erschienener Schlesien-Reiseführer wusste da Bescheid, denn in ihm konnte man von einem Stausee, einem barocken Schloss und davon lesen, dass von 23 Gemeinderäten 22 (!) Mitglieder des örtlichen Deutschen Freundschaftskreises (DFK) sind. Ich sollte also in eines der Hauptwohnsitzgebiete der deutschen Minderheit kommen.

 

Ende Oktober fuhren mein Mann und ich ins Generalkonsulat Breslau. Hier erwartete uns Konsul Thomas Strieder. Er hatte auf Wunsch des Turawaer DFK und mit Hilfe der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) in Köln in der gesamten Bundesrepublik nach einem geeigneten Deutschlehrer gesucht. Er war bei unserem Kommen sehr beschäftigt, einmal war er dabei, die  Reste der einstigen DDR-Vertretung auszuräumen und zum anderen bekam er ständig Meldungen  von den Erfolgen der deutschen Minderheit bei den Sejm- und Senatswahlen.

 

Endlich ging es mit „diplomatischer“ Begleitung über die Vorkriegsautobahn nach Oppeln/Turawa. Dort, im ehemaligen Schloss der Grafen von Garnier, das das Gemeindeamt beherbergte, wurden wir vom deutschen Bürgermeister, dem Schuldirektor, Gemeinderäten und dem Vertreter der deutschen Minderheit aus Gogolin, Richard Donitza, freundlich empfangen. Ein möbliertes Zimmer war bereitgestellt und Herr Donitza versprach in Absprache mit Johann Kroll, schnellstens deutsche Schulbücher  bis zum 1. November zu beschaffen.

 

Endlich etwas Bekanntes: Meine ehemaligen polnischen „Schüler“ in Bitterfeld hatten mir einst das Lied vom „Karolinchen aus Gogolin“ beigebracht, aber wer war Johann Kroll? Seinen Namen habe ich dann oft gehört, wenn er fast ehrfürchtig genannt wurde, galt er doch als der ungekrönte König (Król) der Deutschen in Polen.

 

Schulbeginn

 

So kam dann der 1. November 1991, aber das war erst einmal ein Feiertag. Mit meiner lieben Gastfamilie erlebte ich das katholische Fest „Allerheiligen“, dann aber kam der erste Schultag in der kleinen Grundschule von Wengern. Im Lehrerzimmer ein verhaltener freundlicher Empfang durch die etwa zehn Kolleginnen und Kollegen. Eine der Lehrerinnen sagte: „Ich lebe seit 30 Jahren im Dorf! Woher kommen auf einmal die Deutschen?“ Den Direktor hatte ich gebeten, mich erst einmal eine Woche hospitieren zu lassen. Aber er sagte, „das sind deutsche Kinder – also fangen sie sofort an!“

 

Das war wie ein Sturz ins kalte Wasser! Da standen dann brav 30 Kinder einer vierten Klasse und schauten mich erwartungsvoll an und wussten sicher nichts von deutsch-polnischen Verträgen, die uns zusammengeführt hatten. Da habe ich einfach in gebrochenem Polnisch gefragt: „Könnt ihr etwas auf deutsch sagen!“ Da gingen viele kleine Finger nach oben: „Guten Tak!“, „Viel Glick!“. Einige konnten schon bis zehn zählen! Ella konnte, von der Oma gelehrt, „Gegrüßet seis du Maria“ aufsagen und plötzlich rief ein Kleiner: „Halt die Schnauze!“. Da fragte ich erschrocken, wer sagt denn so etwas? Lachend meinte er: „Opa sagt das sehr oft.“ –  na bitte, da war ja von der deutschen Muttersprache noch allerhand vorhanden.

 

Die Schulbücher vom „Gogoliner König“ waren leider nur für Deutschsprachkurse für Erwachsene zu gebrauchen, die ich dann zweimal wöchentlich im Saal der Feuerwehr durchführte. Von den Weihnachtsferien in Bitterfeld brachte ich Schulbücher und -materialien mit. Auch das Generalkonsulat in Breslau unterstützte mich und der örtliche DFK mit seinem Vorsitzenden Paul Orlik, der den Deutschunterricht zu seiner Herzensangelegenheit gemacht hatte, stand mir immer hilfreich zur Seite. Im März 1992 war die „gesetzlose“ Zeit zu Ende und auf der Grundlage der deutsch-polnischen Verträge beschloss der Sejm das Gesetz über die Minderheitenrechte – das „Pilotprojekt“ von Wengern hatte seine Probe bestanden.

 

Rückblick

 

Zwölf interessante und schöne Jahre habe ich in Wengern verbracht. Höhepunkte waren eine Schulpartnerschaft mit einer Schule in Thüringen, aus der sich Partnerschaften zwischen Gemeinden und den Landkreisen Oppeln und Saalfeld-Rudolstadt entwickelten, die heute noch bestehen. Aber auch die erfolgreiche Teilnahme an den Geschichtswettbewerben der Körber-Stiftung um den Preis des Bundespräsidenten, wo wir deutsch-schlesische Heimatgeschichte erforschten und dokumentierten, zählen dazu.

 

Bei der fünften Teilnahme am Wettbewerb schafften es die Schüler mit einem zweiten Preis bis ins Warschauer Königsschloss. Absoluter Höhepunkt war dann der Empfang bei Bundespräsident Joachim Gauck im Dezember 2013 in seinem Amtssitz Schloss Bellevue. An diesem nahm auch Lukasz Bily vom VdG als Tutor teil.

 

Neben den zahlreichen Auszeichnungen, die Schülerinnen und Schüler von Wengern erhalten haben, freut mich aber besonders, dass mehrere durch das Erlernen der deutschen Sprache in der Lage waren Firmen zu gründen oder eine  gute berufliche Karriere entweder in Polen oder in Deutschland beginnen konnten. Am meisten freue ich mich aber als Lehrerin mit 50 Dienstjahren über Justyna und Gosia, 1991 waren sie Schülerinnen meiner ersten Klasse, heute sind sie selbst Deutschlehrerinnen an „meiner“ Schule in Wengern.

 

Johanna Lemke-Prediger

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