Ende Januar gedenkt man vor allem in Oberschlesien der tragischen Ereignisse des Winters 1945, als die Rote Armee das Land überrollte und für die Menschen eine neue Realität begonnen hatte. Eine Realität, die gekennzeichnet war von Vertreibung, Nachkriegslagern und einer jahrelangen Diskriminierung der oberschlesischen Bevölkerung. Zur Oberschlesischen Tragödie gehört aber auch die Flucht der Menschen vor der Front, von denen nicht alle den Weg zurück nach Hause gefunden haben. Ihre ganz persönliche Odyssee von Mischline, über das Sudetenland, Mitteldeutschland und zurück in die Heimat, hielt Ruth Dylong aus Malapane in einem Tagebuch fest.
Heute lebt die fast 90-jährige Ruth Dylong in einer kleinen Wohnung im Malapaner Plattenbau und die vielen Nachbarn in der Siedlung wissen wohl kaum, was die ältere Frau, die nur noch selten die Wohnung verlässt, in den Wirren des Kriegsende erlebt hat. Dabei steht alles in ihrem Tagebuch aus dem Jahr 1945 geschrieben. Das Original ist irgendwo in den Familienunterlagen erhalten, Ruth Dylong hat es aber für die Nachwelt in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder in neue Hefte abgeschrieben. Auf die Frage, wie sie denn darauf gekommen sei, damals ein Tagebuch zu schreiben, sagt sie: “In einem der Lager traf ich eine Frau und sie sagte mir, ich solle alles aufschreiben, denn später werde ich mich nicht mehr so genau an alles erinnern können. Dabei wäre es doch für die Zukunft wichtig.”
Flucht aus der Heimat
Die damals 16-jährige Ruth arbeitete Anfang 1945 in Mischline (Myślina) bei Guttentag (Dobrodzień) im Kindergarten. Zu dieser Zeit war ihre Mutter in Tarnowitz (Tarnowskie Góry) im Krankenhaus, ihr Vater war als Grenzbeamter in Poraj nahe Tschenstochau stationiert. Am 14. Januar war es dann soweit. “Da kam der Briefträger, Herr Dragon, und sagte, wir sollten die Kinder nach Hause schicken, da sie hinter die Oder weggeschickt werden sollen, da die Front immer näher kommt”, liest Ruth Dyjong aus ihrem Tagebuch. Auch für sie begann nur einen Tag später eine Odyssee, die erst knapp ein Jahr später wieder in Mischline enden sollte.
Doch in den kalten Januartagen 1945 dachte sie wohl kaum, dass sich in den kommenden Monaten ihr Leben so gravierend ändern würde. In einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen ging es zunächst zu Fuß nach Falkenberg (Niemodlin), dann mit dem Zug Richtung Königsgrätz (tschechisch: Hradec Kralove). “Aus Verzweiflung, da die Kinder schon am Erfrieren waren und die kranke Mutter dabei gewesen ist, sind wir in Schweidnitz (Swidnica), wo der Zug am Bahnhof langsamer gefahren ist, herausgesprungen und suchten zunächst in der dortigen Mädchenschule einen Unterschlupf. Als wir weggeschickt wurden, fanden wir zum Glück in der Landwirtschaftsschule einen Platz”, erzählt Ruth Dylong.
Dort blieben die Mischliner Flüchtlinge sechs Tage, mussten schließlich aber weiter, und der Weg führte sie nach Waldenburg (Wałbrzych), von wo aus sie zunächst zu den Verwandten väterlicherseits nach Hirschberg (Jelenia Góra) gelangen wollten. “Da wir aber eine Gruppe von 21 Personen waren, wollte unsere Mutti die Bekannten und näheren Verwandten nicht verlassen und so sind wir mit einem der nächsten Transportzüge nach dem westlichen Sudetenland gefahren”, sagt Ruth Dylong.
Abschied von der Mutti
Am 10. Februar kamen die Flüchtlinge in Zwolln (tschechich: Manětín) an, wo sie in der Schule und im Gasthaus Unterkunft und Essen bekommen haben. Dort hat dann auch Ruth Dylong zusammen mit einer älteren Frau aus Malapane die Versorgung für die Flüchtlinge übernommen, musste sich aber gleichzeitig um die immer kranker werdende Mutter kümmern. Da sich ihr Zustand immer weiter verschlimmerte, ging es schließlich nach Rudig (tschechisch: Vroutek), wo noch funktionierende Feldlazarette waren, die im Gebäude der Schule untergebracht waren. Trotz Transfusionen und Medikamenten baute die Mutter von Ruth Dylong sichtlich ab. “Am 12. März hatte Tante Gertrud keine Ruhe mehr und ging um 9 Uhr zur Mutti. Als sie die Tür aufmachte und ans Bett ging, wollte Mutti noch sprechen, konnte aber nicht. Sie sagte bloß noch “endlich”, schloss die Augen, drehte den Kopf auf die Seite und wusste nichts mehr”, liest mit Tränen in den Augen Ruth Dylong aus ihrem Tagebuch.
Die junge Frau musste nun also ihre Mutter in fremder Erde in einem Massengrab begraben und sollte erst fast 60 Jahre später diesen Ort wiedersehen, als sie mit ihren eigenen Enkeln das nun tschechische Rudig besuchte.
Erstkommunion in der Fremde
Einige Monate noch verbrachte Ruth Dylong in dem Gebiet um Rudig, Zwolln und Luditz (tschechisch: Žlutice) und erlebte dort schließlich den Einmarsch der Roten Armee, vor der sie und ihre Verwandten und Freunde eigentlich geflohen waren. Zu ihrem eigenen Glück wurde sie vor Übergriffen verschont, auch wenn sie wusste, dass man sie nicht nur einmal mitnehmen wollte… Es hieß damals also aufpassen und nie alleine unterwegs sein. Doch auch in dem Haus, in dem sie zeitweise wohnten, wurden später fünf Russen einquartiert, die es sich nicht nehmen ließen auch die Zimmer der Oberschlesier zu durchkämmen. Jedes Mal musste sich Ruth verstecken oder aus dem Haus fliehen. Die Lage für sie und andere Frauen normalisierte sich erst Wochen später.
Ende Juli machte sich Ruth Dylong mit ihrer Schwester Helga auf den Weg über die ehemalige Reichsgrenze, sie gelangten nach Marienbad (tschechisch: Mariánské Lázně), doch sie wurden von den amerikanischen Soldaten nicht weiter durchgelassen. So ging es ein Stück zurück nach Tepl (tschechisch: Teplá), wo sie im dortigen ehemaligen Arbeitsdienstlager untergekommen sind. Dort wurden sie nicht nur ärztlich versorgt, bekamen Essen, sondern erhielten auch den Beistand eines Pfarrers.
“Ich fragte den Geistlichen, ob nicht Helga zur ersten Heiligen Kommunion gehen könnte, da sie in Guttentag zum Beichtunterricht gegangen war. Sie hat dann das Examen bestanden und ging schließlich am 15. September 1945 in Tepl zur Ersten Heiligen Kommunion”, zitiert Ruth Dylong aus ihrem Tagebuch. Sie selbst hat für ihre kleine Schwester ein Kommunionskleid aus einem alten weißen Vorhang genäht. Von einer großen Feier konnte aber keine Rede sein, beide dachten eher daran, so schnell wie möglich weiter ziehen zu können. Gelandet sind sie aber in Tachau (tschechisch: Tachov), wo sie weitere Monate in einem Lager leben mussten.
Verfluchtes Sudentenland!
In diesem Lager erreichte sie dann auch im Spätherbst 1945 Post vom Vater aus Mischline, der sich bemühte, für seine beiden Töchter die Einreisepapiere nach Polen zu erhalten, doch als diese endlich da waren, zögerten die tschechischen Beamten mit der Ausreisegenehmigung. Man müsse auf einen Transport warten, hieß es damals, wie sich Ruth Dylong erinnert und im Tagebuch vermerkte: “Na, das verfluchte Sudetenland! Wann kommt für uns die Erlösung?”
Diese kam am 8. Dezember, als für die aus Oberschlesien Geflüchteten endlich der Transport aus Tachau nach Eger (tschechisch: Cheb) losging, von dort aus mussten sie zu Fuß und mit Pferdewagen weiterziehen und gelangten an die Grenze zum russisch besetzten Teil Deutschlands, der späteren DDR. Immer wieder wurden die Menschen von tschechischen Polizisten und Soldaten kontrolliert, Wertsachen wurden ihnen weggenommen, sodass sie bald mit fast nichts mehr unterwegs waren, als das sie auf dem Leib trugen.
Trotz Reisedokumenten wurden sie aber nicht über die Grenze gelassen und mussten sich durch den Wald ins russisch besetzte Gebiet durchschlagen. Von dort aus ging es zunächst nach Chemnitz, dann Dresden, bis Ruth Dylong, ihre Schwester und weitere oberschlesische Flüchtlinge in Görlitz angekommen sind. “Wir haben den einen Wunsch, Weihnachten zu Hause zu sein”, schrieb Ruth Dylong in ihr Tagebuch, die Hoffnung schwand aber, da beide Schwestern schwer an Krätze erkrankt sind und damit wohl von den polnischen Soldaten nicht über die Grenze gelassen würden.
Nach Hause
Die kleine Gruppe der Rückkehrer musste sich vor dem Grenzübertritt bei einem Arzt melden, Ruth und Helga gingen wegen ihrer Krankheit nicht mit, die anderen brachten – glücklicherweise – aber auch für sie ein ärztliches Attest, sodass sie alle am 16. Dezember die neue deutsch-polnische Grenze übertreten haben und sich mit einem Zug in Richtung Heimat aufmachten. Am selben Tag kamen die beiden Schwestern in Oppeln an, wo sie übernachteten und sich am folgenden Tag auf den Weg nach Hause, ins Heimatdorf Mischline bei Guttentag machten. “Früh um 7 Uhr war der Zug in Richtung Vosswalde (Fossowskie), der uns nach Mischline brachte. Der Papa war gerade am Bahnhof, denn er war dort als Arbeiter beschäftigt. Als ich ihn sah, bekam ich so einen Weinkrampf vor Freude. So gingen wir mit Helga ohne Mutter nach Hause”, schließt Ruth Dylong ihr Tagebuch der Flucht und Wiederkehr.
In dieser ganzen Aufregung der letzten Fluchttage habe sie ganz vergessen, dass am folgenden Tag, also dem 18. Dezember, ihr 17. Geburtstag war. Den hat sie nicht gefeiert, aber ihr Wunsch Weihnachten wieder zu Hause zu sein, ging in Erfüllung. Ruth Dylong und ihre Schwester lebten von da an im polnischen Oberschlesien, Ruth hat vier Jahre später geheiratet. Im Herzen ist sie Deutsche geblieben und in dieser Sprache hat sich auch ihre Kinder erzogen. Die deutsche Kultur und Sprache ist auch heute für sie ein wichtiges Gut. Nur aktiv weitergeben, wie sie es noch vor einigen Jahren im Malapaner DFK und dem dortigen Chor gemacht hatte, kann sie es nicht mehr, der Krankheit wegen. Sie bekommt aber gern Besuch und erzählt dann von ihrem Leben und der Pflege der deutschen Kultur in der Nachkriegszeit. “Das muss man doch erzählen, das darf nicht einfach vergessen werden. Diese Geschichte ist auch Teil des Landes”, sagt Ruth Dylong.
Rudolf Urban