Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Alle träumen von der Rückkehr in die Heimat“

Vor einigen Wochen berichteten wir über die dramatische Flucht von Julia Bogdan und ihren beiden Töchtern sowie ihrer Mutter aus dem südukrainischen Cherson nach Deutschland (siehe „Wochenblatt.pl“, Nr. 18/1569). Seit Mitte April lebt die kleine Familie nun in München. Wie geht es ihr dort?

Als wir Julia Bogdan am Telefon erreichen, sitzt sie gerade mit ihrer Mutter beim Arzt. „Als Folge der stressigen Flucht und der Tage voller Angst hat Mama starke Herzprobleme bekommen“, berichtet die Deutschlehrerin und Leiterin der Chersoner Jugendorganisation der deutschen Minderheit „Partnerschaft“.

Der scheinbar selbstverständliche Arztbesuch offenbart aber auch etwas Positives: Denn trotz des berüchtigten deutschen Bürokratismus wurde die vierköpfige Familie schon kurz nach ihrer Ankunft in München am 21. April krankenversichert. „Und seit gestern (06.06., Anm. d. Red.) sind wir nun auch endlich alle offiziell bei der Stadt München angemeldet. Bei meiner Mutter hat dieser Prozess sehr lange gedauert, da ihr alter Pass, in dem alles noch in kyrillischen Buchstaben geschrieben war, erst noch übersetzt werden musste“, erzählt Julia Bogdan.

Mitte April floh Julia Bogdan mit ihrer Familie aus dem südukrainischen Cherson nach München.
Foto: privat

Den Alltag in München meistern
In München leben die beiden Frauen und die zwei Schwestern weiterhin in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Bürogebäudes, das ein örtlicher Unternehmer kurzerhand zu einer Unterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine umfunktioniert hat. Sieben Familien – allesamt Frauen und Kinder – haben dort eine vorläufige Bleibe gefunden, insgesamt 22 Personen.

Julia Bogdans ältere Tochter hat vor Kurzem ihren Schulabschluss gemacht – natürlich im digitalen Distanzformat. Der Traum von einem eleganten Abschlussball gemeinsam mit ihren Freundinnen und Freunden in Cherson blieb ihr somit verwehrt. Derzeit besucht die 17-Jährige einen Deutschkurs und möchte bald mit dem Studium beginnen, am liebsten an der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität in Charkiw, die in Kooperation mit dem Münchener Kulturzentrum GOROD auch Präsenzveranstaltungen für geflüchtete Studierende in der bayerischen Landeshauptstadt anbietet.

Für ihre dreijährige Tochter sucht Julia Bogdan momentan einen Kindergartenplatz. „Das ist gar nicht so einfach, denn es gibt hier generell zu wenige Betreuungsmöglichkeiten“, sagt sie. Sie selbst wartet derzeit noch auf die Erteilung ihrer Arbeitserlaubnis. Momentan ist sie – über das Internet – noch als Deutschlehrerin an der Nationalen Technischen Universität Cherson tätig – allerdings auf freiwilliger Basis, denn die Gehälter werden nur für jene Lehrkräfte weitergezahlt, die noch vor Ort unterrichten. Zur finanziellen Absicherung bezieht die Familie deshalb Sozialhilfe. Julia Bogdan möchte dem deutschen Staat aber nicht zur Last fallen und möglichst bald wieder eigenes Geld verdienen.

Schwieriger Kontakt in die Heimat
Der Kontakt zu den Landsleuten, die in Cherson geblieben sind, wird indes immer schwieriger, da Russland das örtliche Mobilfunknetz und den Zugang zum Internet kontrolliert. „Nur über Chatprogramme wie Viber oder Telegram kommen hin und wieder Nachrichten durch“, erklärt Julia Bogdan.

Sie erzählt, dass sie vor einiger Zeit Medikamente über Lemberg (Lwiw) nach Odessa geschickt habe. Der Freiwillige, der die Hilfslieferung von dort nach Cherson bringen sollte, habe allerdings zwei Wochen lang zwischen zwei russischen Kontrollposten festgesessen, konnte weder vor noch zurück. Doch jetzt habe er es in die von Russland besetzte Stadt geschafft. „Diese Nachricht hat mich glücklich gemacht. Ich freue mich, dass ich den daheimgebliebenen Menschen auch von hier aus helfen kann“, sagt Julia Bogdan mit tränenunterdrückter Stimme.

Die Deutschlehrerin erzählt auch, dass ihre Tochter so bald wie möglich wieder zurück in die Ukraine wolle: „Sie sieht in Deutschland keine Zukunft für sich. Und auch alle anderen, mit denen ich hier in der Unterkunft spreche, träumen von der Rückkehr in die Heimat. Auch ich hoffe sehr, dass die ukrainische Armee endlich mein Gebiet und das ganze Land befreit.“ Nicht ohne den Hauch einer gewissen Resignation in ihrem Tonfall fügt sie sodann hinzu: „Aber darauf müssen wir wohl noch lange warten.“

Lucas Netter

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