Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Über Deutsche Zivilisten in Lagern

Helmut Spies lebt heute in Hagenow und kann auf eine erfolgreiche Karriere als Arzt zurückblicken. Foto: Arche Noah Filmproduktion

 

Helmut Spies war 13 Jahre alt, als die Rote Armee ihn gefangen nahm und in ein Lager in Ostpreußen brachte. Was er in dieser Zeit erlebte, verfolgt ihn noch lange. Sein Schicksal verkörpert das vieler anderer deutscher Zivilisten, die im östlichen Europa und in Russland zwischen 1941 und 1955 in Arbeits- oder Vernichtungslager inhaftiert worden sind. Geschichten, die in den vergangenen Jahrzehnten in Vergessenheit geraten sind, rückt nun eine Ausstellung wieder ins öffentliche Bewusstsein. Die letzten Zeitzeugen berichten aus ihren Erinnerungen, so wie Helmut Spies.

 

 

 

Als im Frühjahr 1945 die Rote Armee Ostpreußen besetzt, beginnen Tausende Deutsche zu flüchten. Herr Spies, Sie lebten damals in dem kleinen Ort Szeskehmen (heute gehört er wahrscheinlich zu den verschwundenen Orten) und waren 13 Jahre alt, Ihnen ist die Flucht nicht gelungen. Anfang Juni 1945 kommen Sie wie viele andere in ein Arbeitslager in dem Dorf  Brakupönen (heute Kubanowko), wo Sie bis Ende September 1948 zur Zwangsarbeit verpflichtet waren – Sie waren eine Art lebende Reparation für das Leid und die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, die Nazi-Deutschland zu verantworten hatte. Wie hat sich Ihre Überführung in das Lager vollzogen?

 

Das war ein monatelanger Prozess. Wir sind über das Frische Haff geflüchtet. Meine Großmutter durfte auf den Fuhrwagen, nur kleine Kinder und ganz alte Menschen durften mitfahren und unser Handgepäck. Meine Mutter und ich mussten zu Fuß auf dem Frische Haff gehen. Wir wurden bei dem Marsch von Flugzeugen bombardiert. Etwa alle 30 bis 40 Meter fuhr ein Fuhrwerk auf das Eis, das durfte nicht stehen bleiben, und wenn einer eingebrochen war, war keine Hilfe möglich. Manchmal guckten die Pferdeköpfe noch heraus, die Pferde schrien dann und mit den Pferden und Menschen sind die Wagen untergegangen. Hilfe durfte nicht geleistet werden, da alle in Bewegung sein mussten.

 

Dann sind wir mit Bussen in einen Vorort von Palmnicken (heute Jantarny – RUS) gebracht worden, wo am 15.April 1945 die Russen eingezogen sind. Am nächsten Morgen, dem 16. April, hat man uns auf der Straße zu Kolonnen zusammengestellt und dann ging es zu Fuß los Richtung Lager.

 

Ich hatte eines abends so unheimlichen Durst, da hab ich aus einem Tümpel Wasser getrunken. Am nächsten Tag ging das natürlich in die Hosen, aber in den Graben gehen, die Notdurft zu verrichten war nicht möglich. So bin ich mit vollgemachter Hose wochenlang ohne zu waschen gewandert. Unterwegs waren wir bis Anfang Juni 1945. Bis wir dann in dem Lager Brakupönen ankamen.

 

Meine Großmutter war unterwegs schon gestorben. Als sie erkrankte, wurde sie noch in ein Krankenhaus gebracht. Da haben wir sie einmal besuchen können und dann bekam meine Mutter Bescheid, dass die Oma gestorben sei. Aber wann sie beerdigt und wo beerdigt wurde,  das wissen wir nicht.

 

Wie sah Ihr Leben im Lager aus?

 

Helmut Spies als Junge. Foto: privat

 

Wir waren auf einem Vorwerk. Das Vorwerk war ungefähr einen Kilometer von dem Ort Brakupönen entfernt. Das Lager war nicht eingezäunt. Es war wie ein Dorf. In der einen Wohnung wohnten die Posten und in den anderen fünf Wohnungen wir Gefangenen, etwa 200 Menschen. Alles Deutsche. Mutter und ich wohnten in einer Küche. Aus der Scheune holten wir uns Stroh und auf den Strohlagern haben wir uns dann niedergelassen. Auf dem Hof war eine Pumpe, dort konnten wir Wasser holen. Einige Leute hatten auch noch Streichhölzer. So konnten wir Feuer machen. Konservendosen, die die Soldaten weggeworfen hatten, lagen überall herum und waren unsere Gefäße. Wir hatten weder Löffel noch Messer. So haben wir Mehl mit Wasser vermischt und diese Mehlpampe dann mit den Fingern gegessen. Eine Literdose voll Mehl war eine Wochenration.

Unsere Arbeit bestand vor allem aus Feldarbeit. Ein riesengroßes Zwiebelfeld hatten die, die schon im Lager waren, im Frühjahr gesät. Das musste gejätet werden und wir Jungs mussten Pferdegespanne führen. Arbeitspflicht bestand ab dem 10. Lebensjahr und Jungs galten ab dem 12. Lebensjahr als Männer. So haben wir Jungs wie Männer arbeiten müssen. Davon zeugen heute noch meine krummen Finger. Und auch alte Männer mussten das machen. Viele haben nicht überlebt. Sie sind entkräftet gestorben

 

 

Sie sind im Juni im Lager angekommen, im Sommer. Woher haben Sie Winterbekleidung bekommen?

Winterkleidung haben wir uns aus alten Säcken genäht. Aus Bindegarn, den wir an Strohmieten fanden, haben die Frauen dann Handschuhe gestrickt. Radspeichen waren unsere Stricknadeln. Alte Schirmgestelle, die wir auf den Böden dieser Bauernhäuser fanden, waren unsere Stopfnadeln. Eine Schafschere war unsere Schere.
Haben Sie im Lager körperliche Gewalt erlebt?

Ich bin einmal von einem Posten mit der Peitsche um die Ohren gehauen worden, aber nur weil ich ihm nicht gehorchte. Aber geschlagen  worden bin ich nicht, meine Mutter auch nicht. Es traf vor allem die Männer. Sie wurden zur Oberkommandantur bestellt. Die alten Männer sagten, das sei die GPU (GPU heißt auf russisch staatliche politische Sicherheit, der spätere KGB). Wer dort hinbestellt wurde, kam oftmals nicht wieder. Und wenn sie wiederkamen, fiel es auf, dass sie alle stark husteten. Und nach ein paar Tagen sind sie gestorben. Ein alter Mann erzählte, dass er mit gedrehten Stahlfedern geschlagen wurde. Und 1948 lernte ich einen Mann kennen, der sagte, er sei Österreicher und habe 1945 in dem GPU-Gebäude Hausmeisterdienste geleistet. Und seine Aufgabe bestand auch darin, morgens die Leichen aus dem Keller zu tragen. Er hat mir die Orte gezeigt, wo er die Leichen verscharrt hatte. An der einen Stelle guckten noch die Knochen der Beine heraus.

 

 

Wie haben Sie es aus dem Lager heraus geschafft?

Im Winter  1947/48  wurde uns gesagt: Ihr braucht morgen nicht mehr zur Arbeit kommen. Ihr werdet entlassen. Ihr dürft nur Handgepäck mitnehmen. Keine Aufzeichnungen, keine Bücher. keine Notizen, kein Geld. Meine Mutter hatte mich gebeten, bei den Stöbereien auch eine Bibel zu suchen. Mutter hat darin immer gelesen.

Und dann wurden wir zwei oder drei Tage später mit LKWs nach Gumbinnen (heute Gussew – RUS) gefahren, zum Bahnhof. Dort standen Güterwagen bereit. Jeden Tag wurden Fahrzeuge mit neuen Deutschen dazugebracht. Eines Abends wurden die Türen zugemacht und von außen mit Draht verriegelt. Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Als wir wieder anhielten, befanden wir uns in großen Hallen. Einige Leute sagten, das seien die Königsberger Messehallen. Dort waren Verkaufsstände aufgebaut wie heute auf einem Jahrmarkt. Da konnte man alles kaufen. Uns wurde gesagt, wir sollen die letzten Rubel ausgeben.

 

Ein ganz junger Soldat sagte mir:  Kauf  Butter und Speck. In Deutschland gibt es nur Margarine und Marmelade. Er hat auf eine Kontrolle verzichtet und so konnte meine Mutter auch die Bibel retten.

 

Wir waren eine gute Woche unterwegs. Wir haben in Polen manchmal tagelang auf einem Abstellgleis gestanden. Dann sind wir bei Küstrin über die Grenze gekommen und fuhren dann nach Pasewalk. Wir waren alle fürchterlich verlaust. Ich habe ein Mal in meinem Hemd 75 Läuse gezählt. In Pasewalk wurden wir entlaust und im nächsten Flüchtlingslager in Pirna habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Dusche erlebt.

 

 

Wie präsent ist das Lager heute noch in Ihrem Leben? Ist es Ihnen gelungen, das Trauma zu verarbeiten?

Ganz schwer haben mich wöchentlich zwei, drei Mal Albträume geplagt, sodass ich, wenn ich nicht zu Hause war, mit Licht schlafen musste. Im Studentenheim hab ich natürlich die anderen damit belästigt. Keiner wollte mit mir das Zimmer teilen. Da musste ich über meine Nachttischlampe ein Tuch legen, damit das Zimmer abgedämpft war, ich aber sofort merkte, wo ich bin. Als erwachsener Mann, wenn ich im Hotel alleine schlief, musste ich immer mit Licht schlafen. Und zu Hause griff ich zur Seite und merkte, da liegt meine Frau. Und meine Frau merkte, dass ich wieder einen Albtraum hatte. Mittlerweile habe ich das Erlebte verarbeitet. Dabei hat mir auch ein Projekt geholfen, das ich im Jahr 2008 erarbeitet habe.  Sechs Ehemalige in das ehemalige Lager Brakupönen gefahren. Unser Anliegen war: Wir vergeben, was wir hier erlitten.

 

 

Das Gespräch führte Marie Baumgarten

 

 

Die Ausstellung “In Lagern – Schicksale deutscher Zivilisten im östlichen Europa 1941-1955” entstand  im Auftrag der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ wird bis zum 4.11.2018 in der Frankfurter Paulskirche zu sehen sein. 

Öffnungszeiten Frankfurter Paulskirche:

Montag bis Sonntag 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr

Weitere Termine

  • Wunsiedel, 7.3.-4.4.2019
  • Wiesbaden, Haus der Heimat 8.4.-20.5.2019
  • Korbach, 12.8.-27.9.2019
  • Hannover, November-Dezember

 

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