Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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„Unsere Heimat war immer Deutschland“

Gestern noch Kaltwasser, heute Zimna Wódka: die Westverschiebung Polens, die für die Vertreibung mehrerer Millionen Deutsche sorgte. Was bedeuten Grenzen, wenn sie verschoben werden und plötzlich Risse durch Familien, Erinnerungen und Identitäten ziehen? Ein Blick auf eine Familie der deutschen Minderheit in Oberschlesien nach dem Zweiten Weltkrieg.


Ein kleiner Junge, nicht mal fünf Jahre alt. Ich stelle mir vor, wie er an der Hand seiner Mutter, deren Gesicht bereits von Krieg und Sorge gezeichnet ist, über den Bahnsteig läuft. Ich weiß nicht, wohin sie fahren. Ich glaube, nicht einmal er weiß es noch. Aber er erinnert sich an die Scham und an seine Hilfslosigkeit. Er blickt um sich, sieht aber nirgends die ersehnte Tür. Ich muss auf die Toilette, will er sagen. Doch er kann es nicht. Denn das, was gestern noch seine Muttersprache war, ist heute offiziell verboten. Es gilt, nicht in der Öffentlichkeit Deutsch zu sprechen, eigentlich soll man es gar nicht tun. Aber hinter verschlossenen Türen redet seine Familie Deutsch. Oder Schlesisch; ein kleiner Junge kann die beiden Sprachen noch schlecht auseinanderhalten. Sie reden ihm gut zu, sagen, er wäre Deutscher. Doch was nützt es ihm, Deutscher zu sein, Deutsch zu sprechen, wenn er sich draußen fürchten muss, dafür bestraft zu werden? Er schämt sich, weil er weiß, dass er es nicht mehr halten kann. Kurz darauf spürt er die Wärme an seinem Hosenbein. Seine kleine Hand zittert in der warmen Hand seiner Mutter. Diese scheint bisher nichts gemerkt zu haben. Der kleine Junge muss ein Weinen unterdrücken. Die freie Hand drückt er auf seinen Mund. Ich darf jetzt nicht weinen und schreien, denkt er. Und so bleiben sie schließlich an einem der Bahnsteige stehen. Er, stumm, mit Tränen in den Augen.

Dieses Erlebnis ist eines der ersten – und prägnantesten – das mir meine Großeltern väterlicherseits aus ihrer Kindheit erzählt haben. Die frei wiedergegebene Erzählung beruht auf der Erfahrung meines Großvaters, sich als etwa fünfjähriges Kind auf dem Bahnhof eingenässt zu haben, da er nicht auf Polnisch sagen konnte, dass er auf die Toilette gehen muss und Deutschsprechen (in der Öffentlichkeit) nicht erlaubt war. Diese Erzählung war es auch, die mich auf die Thematik der polnischen Westverschiebung aufmerksam gemacht hat.

Mein Großvater als Kleinkind
Quelle: Victoria Matuschek

Warum blicken wir auf die Vergangenheit zurück?

Maya Angelou, eine US-amerikanische Schriftstellerin, sagte einmal in einem Interview: „Ich habe großen Respekt vor der Vergangenheit. Wenn du nicht weißt, woher du kommst, dann weißt du auch nicht, wohin du gehst.“ Auch der spanische Philosoph George Santayana äußert einen ähnlichen Gedanken: „Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“

Wer sich diesen Ansichten anschließt, weiß, dass es nicht nur von großer Wichtigkeit ist, die NS-Zeit sowie den Holocaust zu erinnern und aufzuarbeiten, sondern auch das, was in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg passiert ist.

Zwischen alten Wurzeln und neuen Grenzen: Die Suche nach Heimat in Schlesien nach 1945

Heimweh mal Millionen

Die Nachkriegszeit bedeutete Heimatverlust für rund 14 Millionen Ost- und Sudetendeutsche, mehr als drei Millionen davon aus der Region Schlesien, etwa 2 Millionen Menschen kamen bei der Vertreibung ums Leben. Auch ca. 2,5 Millionen Polen aus der ehemaligen Sowjetunion sowie innerhalb Polens waren aufgrund der Westverschiebung zur Umsiedlung gezwungen. Nur wenige konnten bleiben und auch für diese Menschen änderte sich alles.

Was passiert mit der Familie und mit einem selbst, wenn man bleibt, aber sich alles um einen herum verändert: Die Sprache, das politische System, die Nachbarn und Freunde, selbst das eigene Haus, das plötzlich geteilt werden muss? Kann Heimat uns verlassen, wenn wir uns entwurzelt fühlen in unseren eigentlichen Wurzeln?

Erzählt doch mal, Oma und Opa

Meine Familie väterlicherseits kommt aus der Woiwodschaft Oppeln, aus Kaltwasser/Zimna Wódka, Poremba/Poręba bzw. der ehemals unabhängigen Stadt Cosel (heute Teil von Kandrzin-Cosel/Kędzierzyn-Koźle), alle ca. 50 Kilometer von der Stadt Oppeln entfernt. Sie gehört zu den Spätaussiedlern, die in den achtziger Jahren nach Deutschland übersiedelten und somit auch zu denen, die in der Nachkriegszeit als deutsche Familie im polnischen Schlesien geblieben sind und dort lebten.
Meine Großeltern wurden beide 1942 geboren, sie sind „Kriegskinder“. Mein Großvater Erhard ist in Poremba geboren und lebte einige Zeit mit seiner Familie in Kaltwasser. Seine Mutter ging jedoch mit ihm kurze Zeit später während des Krieges, aufgrund der Abwesenheit seines Vaters, erneut zur Großmutter nach Poremba.

Meine Großmutter hingegen wurde nicht in Schlesien geboren, sondern in Klein Rodensleben, nahe Magdeburg. Da die Eltern meiner Großmutter sehr früh verstarben, ist sie nach deren Tod zu einem Onkel nach Cosel gekommen. Dort wuchs sie als einziges deutschstämmiges Kind im Ort auf, weil die meisten Deutschen Cosel nach dem Krieg verlassen hatten.

Meine Großmutter bei ihrer Einschulung
Quelle: Victoria Matuschek

In den ersten Lebensjahren sind meine Großeltern mit der deutschen Sprache aufgewachsen und mussten daher im Kindergarten und der Grundschule erstmal Polnisch lernen. Zudem wurden ihre Namen im Nachkriegspolen ‚angepasst‘: aus Erhard wurde Jerzy. Meine Großmutter Monika konnte ihren Vornamen behalten, allerdings nahm sie als geborene Handge den Nachnamen ihres Onkels Fitzek an. Doch trotz Namensänderung blieb die Sprachbarriere. Meine Großmutter sagt sogar, sie habe bis heute einen deutschen Akzent im Polnischen, so signifikant resultierten für sie die ersten Jahre frühkindlicher Spracherziehung.

In einem Gespräch erzählen mir meine Großeltern, dass sie beide während ihrer Kindheit aufgrund ihrer Herkunft beleidigt und schikaniert worden sind. Die Kinder in der Schule meiner Großmutter haben sie immer „szwabka“ gerufen. Das Wort „szwab“ gilt in Polen als übles Schimpfwort, das ursprünglich, wie das Wort bereits suggeriert, Schwaben gegolten hatte, die nach Polen ausgewandert waren. Später wurde es dann auch auf Deutsche aus anderen Regionen angewandt. Ein anderes Wort, mit dem meine Großmutter beleidigt wurde, ist „hitlerówka“ („kleiner Hitler“).

Wo bist du, Siegrid?

Ich frage meine Großeltern, ob sie wissen, wieso sie damals bleiben konnten. Da die beiden bei Kriegsende gerade mal drei Jahre alt waren, können sie sich natürlich nicht an vieles aus dieser Zeit erinnern. Mein Vater leitet sich das Verharren in Schlesien dadurch her, dass auf dem Land und in kleineren Ortschaften eine größere Sesshaftigkeit bestand als in den Städten, sodass die Mehrheit der Schlesierinnen und Schlesier ihre Heimat zwar verließ, aber einige wenige Familien auf dem Land vor Ort bleiben konnten. Aber warum waren meine Großeltern dann umgeben von polnischen Kindern und Familien? Meine Oma erzählt mir, dass sie das einzige deutsche Kind in ihrer Klasse und ihrem Viertel war. Auch ihre damalige Freundin Siegrid sei nach Deutschland gefahren. War meine Familie besonders sesshaft, sodass sie dortblieben, oder hatte sie einfach nur besonderes „Glück“? Die Personen, die mir diese Frage womöglich beantworten könnten – meine Urgroßeltern – sind leider vor Jahren beziehungsweise Jahrzehnten verstorben.

So kam es nach dem Krieg, dass die Familien meiner Großeltern mit polnischen Familien in einem Haus zusammenlebten. Die Familie meines Großvaters zum Beispiel in einem Zimmer im Erdgeschoss und die polnische im ersten Stock. Mein Großvater schildert das Zusammenleben mit der polnischen Familie als normalen Alltag. Er habe mit dem Jungen aus der polnischen Familie gespielt. Sie waren klein, daher stellten ihre unterschiedlichen Muttersprachen noch kein relevantes Problem dar. Irgendwann sei die polnische Familie dann in ein anderes Dorf gezogen, schließlich waren auch sie ursprünglich unfreiwillig dagewesen. Auch sie hatten ihre Heimat verlassen müssen und wurden vertrieben, wie so viele andere…

Mein Großvater und ich (als Kind)
Quelle: Victoria Matuschek

Und wo ist die Heimat?

Natürlich lässt sich Heimat nicht nur in einem Land oder einer Stadt finden, sondern auch in Familie und Freunden, viele assoziieren damit dennoch einen Ort, bei dem Grenzen – mental oder geografisch – eine wichtige Rolle spielen. Aber wo ist denn nun die Heimat meiner Großeltern?

Für meine Großmutter ist klar: „Meine Heimat war immer Deutschland“. Ihr Onkel, bei dem sie aufgewachsen ist, hat bis zu seiner Auswanderung oder ‚Rückkehr‘ nach Deutschland, nur gebrochen Polnisch gesprochen.
Die Eltern meines Großvaters haben ihm unterdessen stets klargemacht, dass sie Deutsche waren. Mein Großvater hat seinen Vornamen so bald wie möglich wieder zum deutschen Namen Erhard geändert. Ausschlaggebend war für meine Großeltern also die Gesinnung ihrer Erziehungsberechtigten, die ihre Zugehörigkeit bereits seit langer Zeit in der deutschen Sprache und Identität verankert sahen und weniger Anpassungsbereitschaft zeigten als möglicherweise andere Schlesierinnen und Schlesier. Für meine Urgroßeltern ist ihre Heimat nach dem Krieg plötzlich zur ‚falschen Heimat‘ geworden.

Unterdessen äußert sich Heimat in der Erinnerung meiner Großeltern stets als das äußerst positive Bild Deutschlands, das sie sowohl als Kinder durch ihre Angehörigen hatten, wie auch heute nach wie vor hegen. Das Deutschland, das sie in den achtziger Jahren vorfanden, war ungefähr das, was sie nach einigen Besuchen in Ostdeutschland erwartet hatten. Deutschland war ‚Heimkehr‘, obwohl diese Heimat bis dato überwiegend in ihrer Imagination vorhanden gewesen war.

Dokumentenstapel meiner Großmutter, der aus abgelehnten Ausreiseanträgen in die Bundesrepublik Deutschland besteht
Quelle: Victoria Matuschek

Späte ‚Heimkehr‘

Jahrelang haben meine Großeltern Anträge gestellt, um endlich in ihr zu leben: der ominösen Heimat Deutschland, der sie bis dato nur bei ein paar Ausflügen begegnet sind. Fast 30 vergilbte Zettel, die meine Großmutter noch immer aufbewahrt, dokumentieren den Aufwand ihrer versuchten Ausreise nach Deutschland. Es handelt sich dabei um Ablehnungen des polnischen Reisepassamtes. Etwa sechs Jahre lang, von 1981-1987, haben meine Großeltern mit ihren Kindern Ausreiseanträge an die polnische Regierung gestellt, um nach Deutschland überzusiedeln. Meine Großmutter erzählt, dass sie durch ihre Bestrebungen, nach Deutschland zu gehen, Missbilligungen, beispielsweise auf der Arbeit, ernteten.

Viele der Auswanderinnen und Auswanderer wählten aufgrund dieser langen Wartezeiten und frustrierenden Versuche den inoffiziellen oder ‚illegalen‘ Weg nach Deutschland. Mein Großvater durfte schließlich nach langem Warten und stetem Ausfüllen von Formularen im Jahr 1987 Polen verlassen. Meine Großmutter und mein Vater, zu dieser Zeit bereits ein junger Erwachsener, erhielten schließlich einige Zeit später die Ausreisebewilligung und kamen ebenfalls nach Deutschland. Sie durften jedoch nur zwei Kisten ihres Hab und Guts mitnehmen, die an der Grenze kontrolliert und dokumentiert wurden.

Dann ging es mit dem Zug quer durch Deutschland, bis sie meinen Großvater in Bonn wiedertrafen. So musste meine Familie letztendlich eine lange Zeit in Ungewissheit warten, während sie zwar in der polnischen Nation lebten, sich aber kulturell als Deutsche fühlten: geografisch eingegrenzt und doch sozial ausgegrenzt.

Victoria Matuschek

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