Die 1927 geborene Melitta Sallai stammt aus einer adeligen Familie, verbrachte ihre Kindheit im niederschlesischen Muhrau/Morawa und flüchtete nach dem Zweiten Weltkrieg in den Westen. Als Pensionärin kehrte sie an ihren Geburtsort zurück. Karin Niemiec sprach mit ihr.
Frau Salai, sagen Sie, wie kam es dazu, dass Sie wieder nach Muhrau zurückkehrten?
Eigentlich ist unsere Mutter daran schuld. Sie war einmal hier in den 70er Jahren, als die ersten sogenannten Heimweh-Touristen kommen konnten. Sie sah, dass das Haus noch stand. Sehr viel ist hier im Krieg kaputt gegangen. Das Haus war zwar ganz leer, es gab kein Möbelstück mehr drin, aber es stand noch. Und sie kam zurück und sagte uns Kindern, sieben Stück sind wir gewesen, Kinder, geht zurück und macht was daraus. Nicht wiederhaben wollen, aber etwas daraus machen. Was ja viel wichtiger ist.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Wir haben ihr das nie abgenommen. Wie sollten wir durch die DDR ins kommunistische Polen, das ist unmöglich. Aber sie hat es nicht vergessen, sie hat es immer wieder gesagt und wir konnten es schon kaum mehr hören. Bei jedem Stück, das wir wegwerfen wollten, hat sie gesagt, hebt das auf, das könnt ihr nochmal in Muhrau brauchen. Wir haben ihr dann einfach nichts mehr gezeigt. Naja, und noch kurz bevor sie gestorben ist, hat sie gesagt: „Ich weiß genau, dass ich längst tot bin, aber ihr seid wieder in Muhrau und macht was daraus“.
Und sie hat recht behalten.
Nachdem sie gestorben war, bekam meine jüngere Schwester eine Einladung zu einem Gestüt, sie arbeitete mit Pferden in Baden-Baden. Sie war eigentlich ganz happy und sagte: „Da sehe ich mal, wo ich geboren bin“. Denn sie war ein halbes Jahr alt, als wir weggingen und konnte sich natürlich an nichts mehr erinnern. Und als sie hierherkam, sagte der damalige Chef des Gestüts, der Andrzej, genau das gleiche, was unsere Mutter gesagt hat, fast mit denselben Worten: „Kommt doch zurück und macht was draus, sonst geht es kaputt“. Und das ist uns kalt den Rücken runter gelaufen. Da haben wir gesagt, was sollen wir, jetzt kommt es von polnischer Seite auch noch. Nun, und dann brach die DDR zusammen, hier war der Umbruch und dann haben wir gesagt, jetzt können wir gar nicht anders, jetzt müssen wir etwas machen. Und so hat es eigentlich angefangen.

Sie haben hier in Muhrau jede Menge auf die Beine gestellt. Im neoklassizistischen Schloss aus dem Jahr 1873 gründeten sie die Stiftung der Heiligen Hedwig, den deutsch-polnischen Kindergarten „Unter den Linden“ sowie die „Internationale Begegnungsstätte Muhrau” .
Wir haben mit dem Kindergarten angefangen, das ist ein karitativer Kindergarten, die Kinder brauchen nichts zu bezahlen. Und wir haben erst gedacht, wir machen einen ganz kleinen Kindergarten, nur in der Hälfte des Hauses. Aber dann kam die Agencja Restrukturyzacji i Modernizacji Rolnictwa und sagte: „Wenn, dann müsst ihr schon das ganze Haus nehmen und zwölf Hektar Park.“ Liebe Mutter, so viel wollten wir gar nicht, was sollen wir jetzt damit machen? Na ja, und dann haben wir uns überlegt, dass wir aus dem anderen Teil des Hauses eine Begegnungsstätte machen. Weil der Kindergarten karitativ ist und auf Spendenangewiesen ist. Und Spendenbeine sind ja schwache Beine. Und so haben wir gesagt, die andere Seite, die nimmt dann Geld ein, sodass es ein Projekt ist, was sich eines Tages selbst trägt. Renovierungen natürlich ausgeschlossen. Da sind wir immer noch auf Spenden und Zuschüsse angewiesen.
Der Winter ist immer schlimm, weil die Heizkosten so hoch sind und wir große Zimmer haben. Zudem kommt, dass im Winter auch wenig Gäste, die unsere Einnahmequelle sind, kommen
Ihre Kindheit verbrachten sie hier auf Schloss Muhrau. Sie sind aufgewachsen in der Tradition des Adels. Wie war es für ein Kind, in einer Adelsfamilie aufzuwachsen?
Ich war 17 Jahre alt, im Januar, als ich hier wegging. Wir haben manchmal gemault, wann dürfen wir denn endlich mal spielen? Mein Vater war ja ein großer Reiter und der wollte natürlich, dass die Kinder auch reiten, und wir mussten immer viel reiten. Interessant ist, dass wir früher nie Helme hatten beim Reiten, wie man sie heute trägt. Wir sind natürlich runter gepurzelt wie die Fliegen, aber das hat anscheinend unseren Köpfen nichts gemacht.
Haben Sie gesungen?
Wir haben natürlich viele Lieder gesungen. „Ein Männlein steht im Walde“, Kinderlieder, und als wir älter waren, auch Volkslieder. Man sang ja früher überhaupt mehr. Aber das ist heute in Deutschland ganz verloren gegangen. Wenn wir polnische Gruppen hier haben, dann singen die sehr viele Volkslieder und so. Aber die Deutschen, habe ich so das Gefühl, die haben – weil sie immer ein bisschen übertreiben – das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Weil damals die Volkslieder ja alle auf Nazitexte mit den gleichen Melodien umgedichtet wurden. Später wurden sie einfach über Bord geschmissen. Und heute singt man in Deutschland fast keine Volkslieder mehr.
Wie war die Atmosphäre in der Familie?
Es war natürlich eine preußische Ordnung, aber es war auch sehr liebevoll. Das kann man sich gar nicht so vorstellen. Am Sonntagmorgen durften wir beispielsweise ins Schlafzimmer der Eltern, ins Ehebett und „hoppsa, Familienkloß“ spielen. Es war ein liebevoller Umgang mit uns, aber natürlich, man musste gehorsam und pünktlich sein. Es war eine Erziehung, für die ich sehr dankbar bin.
Wie wurden Sie erzogen?
Meine Eltern haben uns nie erzogen mit der Einstellung „das ist deins“. Deins ist überhaupt nichts, hieß es. Du hast Verantwortung dafür, solange du lebst, mitnehmen kannst du es nicht. Und ich weiß noch, wie mein Bruder einmal sagte, „Aber meine Armbanduhr, das ist doch meine“. Und meine Mutter antwortete, „Wenn du mal in den Himmel gehst, kannst du sie nicht mitnehmen. Die Uhr hast du, damit du pünktlich bist.“ Zu Muhrau gehörten noch fünf andere Güter und die Zuckerfabrik, und ich habe nie gehört, dass mein Vater irgendwann mal gesagt hatte, das ist meine Zuckerfabrik. Das war die Auffassung in meiner Familie, so wurden wir erzogen, ich bin sehr froh darüber. Heute sagen manchmal Leute, die aus Deutschland kommen: „Ist es nicht schrecklich, dass Sie wieder hier wohnen, und es gehört Ihnen nicht?“ Nein, das ist gar nicht schrecklich. Polnisch zu lernen, das war schwer. Aber obwohl mir das Gebäude nicht gehört, fühle ich mich trotzdem verantwortlich. Das ist eine ganz andere Auffassung. Ich weiß, als wir dann nach der Flucht alle zusammen in einem kleinen Häuschen im Walsertal saßen, was wir natürlich sehr schön fanden, weil man so ganz eng beieinander war und wohnte, sagte meine Mutter einmal: „Eigentlich schön, ich habe nicht mehr so viel Verantwortung“. Man fühlte Besitz als Verantwortung, und nicht als Besitz. Natürlich war der Verlust schwierig, weil es schwierig war, die sieben Kinder durchzubringen. Aber ein verlorener Besitz war für sie nicht das Allerschlimmste.
Sie engagieren sich für das deutsch-polnische Miteinander. Sind Sie glücklich in Schlesien?
Ja, sehr natürlich. Ich meine, wer hat das Glück, im Alter des Lebens wieder in seinem Elternhaus zu wohnen? Das ist ja wirklich eine sehr schöne Sache.
Sie kennen die deutsche und die polnische Mentalität. Wo sehen Sie da Unterschiede?
Ich habe zehn Jahre in München gewohnt und in der U-Bahn darf man nicht rauchen, das ist ja klar. Aber ich habe aus lauter Daffke, aus Trotz, die Zigarettenschachtel in die Hand genommen.
Und immer kamen – manchmal fünf oder sechs Leute – vorbei „Hier darf man nicht rauchen“.
„Wissen Sie, dass man hier nicht rauchen darf?“ Ich antwortete, dass ich sie ja nur in der Hand habe. Aus Witz habe ich das gemacht und gedacht, wie die Leute auf einen aufpassen. Wenn ich hier in Polen bin, sitze ich in Breslau auf dem Hauptbahnhof und habe gar nicht gesehen, dass man da nicht rauchen darf. Ich warte auf einen Gast und stecke mir eine Zigarette ein. Da kommt ein Pole auf mich zu, ein junger, und sagt: „Wissen Sie, eigentlich darf man hier nicht rauchen. Aber das macht nichts, Sie können ruhig zu Ende rauchen. Ich gucke, wenn ich einen Polizisten sehe, sage ich Ihnen Bescheid“. Und das ist genau der Unterschied. Ein Pole hat mir gesagt, in Deutschland braucht man gar keine Polizei, die passen ja alle auf sich selber auf.

Foto: Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Breslau
Sie kamen ins polnische Morawa, wollten auf einmal das Schloss wieder herrichten, dort einen Kindergarten, eine Begegnungsstätte gründen. Wie reagierte die Bevölkerung auf die Schlossherrin?
Am Anfang war die polnische Bevölkerung etwas skeptisch, was ich auch gut verstehen kann.
Und das erste polnische Fernsehen, was hier war, „fakt“ aus Breslau, das erinnere ich noch, ging mit mir durchs Dorf und fragte die Dorfbewohner ganz provokativ: „Na, haben Sie denn keine Angst, dass die Deutschen jetzt wiederkommen und die alten Besitzer und dass sie Ihnen wieder alles wegnehmen?“ Und da sagte eine alte Frau, die auf einem Wagen stand und Kartoffeln puhlte: „Wissen Sie, am Jüngsten Gericht fragt der liebe Gott auch nicht, ob wir Deutsche oder Polen sind. Da fragt er nur, ob wir gute Menschen sind. Das sind gute Menschen, die können bleiben.“ Heute ist es so, und das macht mir eigentlich am meisten Freude, dass das ganze Dorf mitmacht. Es gibt keine Erstkommunion, keine Beerdigung im Dorf, zu der ich nicht eingeladen werde. Heute sagt das Dorf: Unsere „Pani Melitta“. Und das freut mich eigentlich am meisten. Das ist daraus gewachsen.
Auch im Schloss ist das so eine familiäre Atmosphäre?
Natürlich. Viele der Angestellten sind vom ersten Tage an, als wir angefangen haben, hier. Und das macht uns natürlich auch Freude. Sogar der Bürgermeister aus Striegau hat uns einmal gesagt, dass sie am Anfang dachten, „Na, wenn die jetzt wiederkommen, denen werden wir Steine in den Weg legen. Das war aber falsch. Jetzt wissen wir, dass sie wirklich etwas machen wollen“. Und jetzt helfen sie uns, wo sie können, das ist sehr schön.
Wenn es im Haus so ruhig wird, wenn der Kindergarten leer ist, was machen Sie dann?
Dann lese ich sehr viel, ich habe sehr viele Bücher. Ich habe einen Fernseher und sehe fern.
Und ich habe einen Computer und kann bei Google herumschauen. Ich habe immer viel zu tun.
Also, da wird es mir nicht langweilig.
Sie konnten kein Wort Polnisch, als sie hierhergekommen sind.
Mit 65 Jahren habe ich das erste Wort Polnisch gehört. Ich habe natürlich in der Küche mit Ulla, mit der Köchin, viel gelernt. Und dann habe ich auch mit den Kindern gelernt. Mit den Kindern lernt man am besten, weil die geduldig sind. Die sagten ein paar Mal hintereinander das Wort, bis ich es richtig konnte. Es gibt so ein paar Wörter, die ich mir ganz gut merke, zum Beispiel „mgła“, da hört man den Nebel. Das Polnische zu lernen war aber schwer. Und ich habe dann auch versucht, es in Sätzen zu lernen. Ich stamme noch aus der Schulzeit, wo wir viel auswendig lernen mussten. Und dann habe ich einfach Sätze auswendig gelernt und sie dann mit anderen Wörtern belegt. Und das hat mir sehr geholfen.
Was würden Sie sich für das Schloss für die Zukunft wünschen?
Ich wünsche mir, dass unsere finanzielle Lage etwas besser wird.
Denn es ist doch schwierig, vor allem mit der Heizung. Es wird ja auch alles immer teurer.
Aber wir können natürlich von jungen Leuten und Studenten auch nicht so viel Geld nehmen.
Melitta Sallai (geborene von Wietersheim-Kramsta) hielt ihr abenteuerreiches Leben im Buch „Von Muhrau nach Morawa“ fest. Das Buch ist in der Zentralen Joseph von Eichendorff Bibliothek in Oppeln auf Deutsch und Polnisch zugänglich.
Für ihr Engagement im deutsch-polnischen Dialog und für den Schutz des kulturellen Erbes Niederschlesiens wurde Melitta Sallai im Januar 2025 mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt. Die Auszeichnung überreichte der Breslauer Generalkonsul Martin Kremer im Namen des deutschen Bundespräsidenten.
Das Interview führte Karin Niemiec.
Bearbeitet von Manuela Leibig