Verschwunden – Teil III
Im letzten Teil der Reihe über verschwundene Orte in ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten begleiten wir Horst Herrmann durch seine alte Heimat Küstrin (Kostrzyn nad Odrą). Anders als in Oberschlesien wurde die gesamte deutsche Bevölkerung von hier vertrieben. Die Altstadt ist heute bis auf wenige Mauerreste komplett verschwunden.
Grün soweit das Auge reicht. Käferzirpen, Vogelsang. Eltern schieben einen Kinderwagen. Doch die Park-Iylle trügt, denn in den Gebüschen schlummern Blindgänger und an den Wegesrändern blitzen Ruinen hervor – hier in der Altstadt von Küstrin, dem „Pompeji an der Oder“. Man erahnt, welcher Irrsinn sich im Zweiten Weltkrieg hier abgespielt hat. „Einen wahren Satz hat Hitler gesagt: In zwölf Jahren werdet ihr Deutschland nicht wiedererkennen. Nach dieser Zeit habe ich meine Heimatstadt Küstrin wirklich nicht wiedererkannt!“ sagt Horst Herrmann, der 1945 aus der zerbombten Stadt geflüchtet ist.
Dem Erdboden gleichgemacht
Nach dem Krieg wurden Teile der Trümmer für den Wiederaufbau Warschaus verwendet, der Rest wurde in der 60ern endgültig dem Erdboden gleichgemacht. Erst in den 1990er Jahren ließ die Stadtverwaltung die zerstörte Altstadt von Trümmerresten räumen, nur das historische Straßenpflaster und die Bürgersteige sind erhalten. Dafür wurden Straßenschilder mit den alten deutschen Namen wiederaufgestellt.
Vor dem Krieg
In der Schulstraße lebte vor dem Krieg Horst Herrmann – von seinem Elternhaus zeugen letzte Mauersteine. Hier verweilt er einen Moment. „Hausummer 50. Hier spielte sich meine gesamte Kindheit ab“, erinnert sich der 85-Jährige. Der Weg zur Schule war kurz, nur 200 Meter die Straße runter, aber er war lang genug für Jungenstreiche. „Dem Uhrmacher Schlott haben wir Holdunderbeeren mit dem Pusterohr gegen die Ladenscheibe gespuckt. Der war wütend! Aber als der kam, waren wir längst weg.“ Dann weist Herrman mit einem Fingerzeig zur rechten Seite: „Dort gab es viele jüdische Geschäfte. In der Progromnacht sind alle Scheiben zerschellt.“ Auch unbequeme Erinnerunegn gehören dazu.
Erinnern – ja, nachtrauern – nein
Horst Herrmann lebt heute in Frankfurt/Oder. Oft kommt er nach Küstrin, das nur eine halbe Autostunde entfernt ist. Dann läuft er die vertrauten Wege ab, erbaut im Geiste die Stadt, wie er sie aus Kindertagen kannte. Heimweh hat dabei nicht, ist längst Deutschland sein neues Zuhause geworden. Auch ein Besuch der Neustadt gehört dazu, die wieder aufgebaut wurde. „Ist schön geworden mit den bunten Häuserwänden“, freut sich Herrmann. Die Altstadt könne aber ruhig so bleiben wie sie ist – als Manhmal von Krieg und Flucht, meint er.
Verschwunden, nicht vergessen
In der Küstriner Altstadt gibt es seit sechs Jahren ein Museum, das sich der Aufarbeitung der Geschichte von Küstrin verschrieben hat. Im März 2016 wurde hier eine neue Dauerausstellung über das deutsche Vorkriegsküstrin eröffnet. Zu sehen sind alte Gebrauchsgegenstände wie Grießtöpfe, aber auch zahlreiche Bilder. Sein privates Fotoarchiv könne da durchaus mithalten, sagt Herrmann. Es sei so reich und detailliert, dass man damit die komplette Stadt vor 1945 rekonstruieren könne: „Mein Ziel ist es, die Geschichte Küstrins zu bewahren.“ Seine Erinnerungen sind ein wichtiger Beitrag, damit die verschwundenen Orte nicht vergessen werden.
Marie Baumgarten
Eine Ausstellung zum Thema „Verschwundene Orte“ wird ab November 2016 im Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden 3 gezeigt.
Verschwunden – Teil II
Über verschwundene Orte berichteten wir in der letzten Ausgabe des Wochenblatts (1274) und stellten den Komponisten Siegfried Matthus vor, der seine alte Heimat Ostpreußen besuchte und dort von den neuen Bewohnern herzlich aufgenommen wurde. Heute begleiten wir Rosa Dobner (95) und Wolf-Dieter Hamperl (73) in Tachau in Westböhmen, Tschechien.
In Gebieten wie Böhmen, die bis zur Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges von Deutschen besiedelt waren, befinden sich zahlreiche Orte, in denen heute keine Menschen mehr leben.
Die Ursachen des Verschwindens ganzer Ortschaften nach 1945 sind vielfältig. Zum einen sind sie demografisch bedingt: Auf etwa 14 Millionen deutscher Vertriebener gab es nur etwa 1,5 Millionen Vertriebener anderer Nationalität, die als „Nachrücker“ in die von Deutschen verlassenen Orte einziehen konnten. Zum anderen wurden viele Ortschaften in der Endphase des Zweiten Weltkrieges extrem zerstört, sie waren dem kommunistischen Regime ein Dorn im Auge.
Den Herrgott zurückholen
Rosa Dobner sitzt auf einer Holzbank und lauscht aufmerksam dem Blätterrauschen in dem urigen Wald, der so stolz und kräftig anmutet, als hätte es ihn schon immer gegeben. In Wirklichkeit befand sich bis 1945 anstelle des Waldstücks der Ort Reichenthal, von wo Rosa Dobner nach den Zweiten Weltkrieg vertrieben wurde. „Die Natur hat sich alles zurückgeholt“, sagt sie. Doch damit wollte sich die heute 95-Jährige nicht abfinden und holte sich ihrerseits zurück, was früher einmal war, als Dobner hier eine glückliche Kindheit verlebte. Auf dem Dorfplatz unter den Linden stand ein Kreuz, daneben Tische und Bänke zum Rasten. Gleich gegenüber war die Schule. „Reichenthal war ein lebendiger Ort, wir feierten viele Fest“ erinnert sich Dobner, die seit der Flucht Albträume über die verlorene Heimat plagten. Dass der einstige Dorfplatz von Reichenthal nun wieder so aussieht wie damals, ist Rosa Dobner und dem Reichenthaler Heimatkreis zu verdanken. Sie stellen nach der Wende, als das Gebiet für die ehemaligen Bewohner wieder zugänglich ist, in einer Hau-Ruck-Aktion Bänke und Tische wieder auf. „Und wir haben ein Kreuz aufgestellt, an die gleiche Stelle wie früher. Damit haben wir endlich den Herrgott zurückgebracht!“, sagt Dobner. Seitdem treffen sie sich immer hier und erbauen im Geiste die alten Gebäude, von denen es keine Spur mehr gibt, so wie von der Schule direkt gegenüber. Oder ihrem Wohnhaus wenige Schritte weiter, wo sie bis heute ein mulmiges Gefühl beschleicht, hatte hier 1945 ihr Leben beinahe geendet. Ein tschechischer Soldat wollte sie zur Frau und versprach, sie von der Aussiedlung zu verschonen. Für Dobner war das undenkbar, sie sah keinen Ausweg und wollte sich aus dem Fenster stürzen. Ein zweiter tschechischer Soldat rettete ihr das Leben. 40 Jahre später, auf dem Dorfplatz unter den Linden in Reichenthal, trifft sie ihren Lebensretter wieder, doch sie erkennen sich in diesem Moment nicht. Zwischen ihnen nur ein kurzer Plausch, auch er wollte nach der Wende die alten Plätze aufsuchen, das Haus seiner deutschen Großmutter. „Ich hätte ihm so gern gedankt“, sagt Dobner, die ihn viel zu spät erkannte. Trotzdem hat sie ihren Frieden gefunden, auf dem Dorfplatz hat sie sich ein kleines Stückchen Heimat geschaffen. Seitdem sind auch die Albträume verschwunden.
Sehnsucht nach den Wurzeln
Er allerdings konnte noch keinen Frieden schließen: Wolf-Dieter Hamperl will das Grab seiner Großmutter kaufen, die noch vor der Vertreibung im tschechischen Neumühl (Nový Mlýn) beerdigt wurde. Doch die Stadt stellt sich quer – Hamperl versucht es weiter. Regelmäßig fährt er zu dem Friedhof und legt Blumen für die Großmutter nieder. In Neumühl hatten die Großeltern eine Mühle und ein Haus, wo die ganze Familie lebte. Nach 1945 wurde die Mühle abgerissen, doch das Wohnhaus steht noch immer. Zu den neuen Besitzern hat er keinen Kontakt. „Als ich einmal die alte Mühle besuchen wollte“, erinnert sich Hamperl, „wurde mit dem Luftgewehr gefeuert, um mich vom Hof zu jagen.“ Obwohl er gerade zwei Jahre alt ist, als die Familie flüchtet, und kaum eigene Erinnerungen an die Heimat hat, ist die Sehnsucht nach den Wurzeln groß. Deshalb beginnt Hamperl neben seinem Beruf als Chirug die intensive wissenschaftliche Aufarbeitung der Vertreibung in seinem Heimatkreise Tachau und gibt das Buch „Verschwundene Dörfer“ heraus. Außerdem gründet er in Weiden in Deutschland ein Heimatmuseum. Hier findet man auch Hamperls liebstes Erinnerungsstück: einen Anzug, den sein Großvater einst anfertigte. Er war ein hervorragender Schneider. Der Träger des Anzuges hat diesen an Hamperl übergeben, der sein Glück kaum fassen konnte.
Marie Baumgarten
Eine Ausstellung zum Thema „Verschwundene Orte“ wird ab November 2016 im Berliner Kronprinzenpalais, Unter den Linden 3, gezeigt.
Verschwunden – Teil I
In den ostpreußischen Gebieten, die bis zur Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges von Deutschen besiedelt waren, befinden sich zahlreiche Orte, wo heute keine Menschen mehr leben. Der Komponist Siegfried Matthus, der von dort 1945 vertrieben wurde, sucht nach den Spuren seiner alten Heimat.
Siegfried Matthus kämpft sich durch das dichte Gebüsch, er sucht etwas. Er wird unruhig. Ein querliegender Baumstamm auf einem zugewachsenen Trampelpfad versperrt den Weg. Die Suche ist beendet, kaum dass sie in der urigen Landschaft der Oblast Kaliningrad begonnen hat, wo die Natur groß und mächtig ist, der Mensch aber klein und unbedeutend. Bis 1945 gab es hier einen Ort namens Mixelm, wo Siegfried Matthus´ Mutter lebte. „Ich hätte diesen Ort gern noch einmal gesehen, doch werde ihn wohl nicht mehr finden. Die Wege sind nicht befahrbar, erschwerend kommt hinzu, dass der Ort nicht auf der Landkarte verzeichnet ist“, sagt Matthus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Mixelm verschwunden – zusammen mit vielen anderen Orten, wo bis dahin Deutsche lebten. Die Ursachen des Verschwindens sind vielfältig. Zum einen sind sie demografisch bedingt: Auf etwa 14 Millionen deutsche Vertriebene gab es nur etwa 1,5 Millionen Vertriebene anderer Nationalität, die als „Nachrücker“ in die von Deutschen verlassenen Orten einziehen konnten. Zum anderen wurden viele Ortschaften in der Endphase des Zweiten Weltkrieges extrem zerstört, sie waren dem kommunistischen Regime ein Dorn im Auge.
Wenige Kilometer weiter – Mallenuppen (Sadoroschje)– ein ähnliches Bild: Wälder und Wiesen so weit das Auge reicht, bis mitten im Nirgendwo plötzlich ein altes Haus auftaucht, das ärmlich anmutet. Siegfried Matthus stapft zielstrebig über das Grundstück zu einem alten Brunnen. Er legt seine Hand darauf und fährt behutsam mit den greisen Fingern am Rand entlang: „Den hat mein Vater gebaut.“ Daneben erinnern letzte Mauerreste einer Eingangstreppe an das Geburtshaus von Matthus. Er wagt einige Schritte durch wild gewachsene Brennnesseln und weist mit einem Fingerzeig auf den Boden. „Hier bin ich 1934 zur Welt gekommen.“ Und hier begann seine musikalische Prägung. Matthus stammt aus einer Musiker-Familie, die damals sogar ein Klavier besaß. 1945 flüchteten sie in die spätere DDR. Heute gehört Siegfried Matthus zu den größten zeitgenössischen Komponisten Deutschlands mit zahlreichen Auszeichnungen.
Auf dem Grundstück leben heute neue Bewohner. Sie kennen Matthus und empfangen ihn freundlich. „Wir verstehen, dass er seine Wurzeln sucht, das ist doch ganz normal. Dass die Deutschen die Gebiete zurück haben wollen, davor haben wir keine Angst, diese Zeiten sind vorbei,“ sagen sie verständig. Matthus nickt ihnen wohlwollend zu und freut sich, dass er es noch einmal hierher geschafft hat.
Im November eröffnet im Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden 3 eine Ausstellung zu diesem Thema.
Marie Baumgarten