Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Vom Versöhnen und Verarbeiten in Grenzregionen

Zum 100. Mal jährte sich letztes Jahr das Plebiszit in Oberschlesien. Doch nicht nur hier, auch im österreichischen Bundesland Kärnten hatte es im Jahr 1921 eine Volksabstimmung gegeben. Aus diesem Anlass veranstaltete die österreichische Bibliothek einen Literaturdialog mit der Autorin Lydia Mischkulnig, in dem über Grenzen, Erinnerung und Versöhnung in Oberschlesien und Kärnten gelesen und diskutiert wurde.

„Grenzen machen Menschen verrückt, Identität macht sie verrückt. Keine Grenze und keine Identität machen sie auch verrückt“, liest Lydia Mischkulnig aus ihrem Text „Unter dem Dach des Nicht-Gesagten“ vor. Circa 50 Zuhörerinnen und Zuhörer sind am vergangenen Montag in den sonnigen Garten der Woiwodschaftsbibiliothek Oppeln gekommen, um der mehrfach mit österreichischen Literaturpreisen ausgezeichneten Autorin zu lauschen. Sie liest für das Projekt “Boarderline: Literarische Dialoge über Grenzerfahrungen in den Regionen Kärnten in Österreich und Oberschlesien in Polen“, aus mehreren fertigen und unfertigen Werken. In diesen verarbeitet sie ihre Kindheit und Jugend, in der sie als Angehörige der slowenischen Minderheit in Österreich mit dem schwierigen Ringen um Grenze, Nationalität und Identität aufgewachsen ist.

Grenzgebiete sind sensible Zonen

Die Autorin erklärt: „Grenzgebiete sind sehr sensible Zonen, da ist viel passiert. Es sind Menschheitsverbrechen begangen worden, in unfassbarem Ausmaß. Wenn man sich damit beschäftigt, merkt man, dass die Menschen, die heute in diesen Regionen leben, irgendwie damit umgehen müssen.“ Obwohl die Grenzverschiebungen so lange zurückliegen, prägen sie noch heute das Leben der Menschen, glaubt sie: „Es wird also etwas da sein müssen von der Vergangenheit, was in die Leben eingesickert ist, die heute gelebt werden. Und was macht das mit uns? Das frage ich mich.“ Zusammen mit der Leiterin der österreichischen Bibliothek Oppeln, Monika Wójcik-Bednarz, hatte sich Lydia Mischkulnig deswegen im Rahmen des Projektes Boarderline auf eine Reise begeben, bei der sie historische Grenzen, Erinnerungsorte und Zeitzeugen in Kärnten und Oberschlesien besuchte.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Dabei standen auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Geschichte und Gegenwart der beiden Regionen im Fokus. Auch in Kärnten hatte es nach Ende des Ersten Weltkriegs bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Österreichern und Slowenen gegeben. Wie auch in Oberschlesien, versuchten der Völkerbund und die europäischen Großmächte, die Situation mittels eines Volksentscheides zu lösen, die die Menschen vor eine schwierige Wahl stellt. „Während der Nazizeit wurden Slowenen in Konzentrationslager verschleppt oder wurden gegen ihren Willen in die Wehrmacht eingezogen“, erzählt Lydia Mischkulnig. „Viele haben sich widersetzt und sind in die Berge gegangen. Von dort kämpften sie als Partisanen gegen den Faschismus.“ Anders als in Oberschlesien, bekamen die Slowenen nach dem Zweiten Weltkrieg in der österreichischen Verfassung weitgehende Minderheitenrechte zugesprochen.
„Aber schon Mitte der 1950er Jahre hat man angefangen zu hetzen.“ Insbesondere der slowenische Schulunterricht ist den österreichischen Politikern ein Dorn im Auge. Ein Vorgang, den die deutsche Minderheit in Oberschlesien inzwischen bekannt vorkommen dürfte. Später kommt es zu sogenannten „Ortstafel-Stürmen“, in denen die slowenischen Ortschilder zerstört werden. „Wenn man nachliest, hat man das Gefühl, es muss ein bürgerkriegsähnlicher Zustand gewesen sein damals“, so die Autorin. Erst mit dem Eintritt Sloweniens in die EU kommt es zu einer Beruhigung. „Ernsthaft umgesetzt wurden die Versprechen aus der Verfassung aber bis heute nicht“, konsterniert Mischkulnig.

Absage an nationalistische Erinnerungskultur

Besonders emotional spricht die Autorin in diesem Kontext über eine aus ihrer Sicht stark vereinfachte Erinnerungskultur, in der sich die begangenen Verbrechen allzu leicht beiseite wischen lassen: „Einfach zu sagen: ‚Wir haben ja nie etwas gegeneinander gehabt, das hat nur die Politik mit uns gemacht“, das finde ich zu einfach. Ich glaube, das stimmt so nie. Denn in den Menschen schlummert oft das Potenzial zum Ressentiment. Und über dieses Ressentiment möchte ich sprechen.“ Dafür muss in Anlehnung an ihr Werk „Unter dem Dach des Nicht-Gesagten“, gerade das bisher Nicht-Gesagte in den Fokus rücken, findet die Autorin: „Was lassen wir aus? Was wird nicht vorgebracht, weil es zu beschämend ist? Wirkliche Versöhnung kann nur stattfinden durch echtes Interesse an den Tiefen der Geschichte. Es darf keine Schlussstriche geben, nach dem Motto, das ist ja jetzt eh vorbei und wir sind alle wieder happy.“


Komplexe Identitätsfindung

Die dafür notwendige Auseinandersetzung mit der Vielschichtigkeit der Geschichte kann insbesondere die Literatur leisten, hofft Mischkulnigs Gesprächspartnerin und Organisatorin der Veranstaltung, Monika Wójcik-Bednarz: „Das Großartige an der Literatur ist, dass sie mit unterschiedlichen Figuren und Erzählsträngen die Geschichten aus verschiedenen Perspektiven erzählen kann. Es werden nicht nur reine Fakten dargestellt, sondern das Menschliche kommt in den Vordergrund.“ So kann Literatur in komplizierten Fragen nach Identifikation und Identität zumindest teilweise Orientierung geben. Die sind in Grenzregionen besonders schwer, erklärt Wójcik-Bednarz und blickt dabei explizit auch auf Oberschlesien: „Das hier war Polen, Böhmen, Österreich, Preußen, Deutschland und ist jetzt wieder Polen. Und die Menschen haben nie Grenzen überschritten, sondern die Grenze hat die Menschen überschritten.“ Ist das Leben in Grenzregionen also ausschließlich eine Belastung? Lydia Mischkulnig findet das nicht: „Ich glaube, diese Herausforderungen schärfen unser Denken, sie schärfen unser Vermögen zu einem Miteinander durch Beschäftigung und Austausch, mit echtem Interesse aneinander und füreinander.“

Simon Imhof

 

 

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