Natalia Mashiko stammt aus Mukatschewo im Westen der Ukraine. Bevor der Krieg in ihr Land kam, arbeitete sie als Deutschlehrerin bei der Deutschen Jugend in Transkarpatien. Die russische Invasion veränderte ihr Leben und jenes so vieler ihrer Landsleute völlig. Dies ist Natalias Geschichte.
Am 24. Februar um fünf Uhr morgens klingelt Natalia Mashikos Smartphone. Ihre Schwiegereltern rufen an. Schlaftrunken geht Natalia ans Telefon. „Der Krieg hat begonnen“, hört sie ihren Schwiegervater mit gedämpfter, aber doch gefasster Stimme sagen. Die schockierende Nachricht lässt Natalia und ihren Mann in einen Zustand der Fassungslosigkeit und der Angst verfallen. „Wir konnten es nicht glauben, wussten überhaupt nicht, was wir tun sollen“, erzählt die Deutschlehrerin und Angehörige der deutschen Minderheit in der Ukraine.
Natürlich habe es Warnungen und Signale gegeben, sagt sie: Der massive russische Truppenaufmarsch entlang der Grenze zur Ukraine. Die Anerkennung der Unabhängigkeit der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk durch Russland am 21. Februar. Oder die Aufforderungen zahlreicher Länder an ihre Staatsbürger in der Ukraine, das Land schnellstmöglich zu verlassen. Wie Natalia berichtet, habe die Sprachassistentin des Goethe-Instituts in Mukatschewo schon eine Woche vor dem Überfall die Anordnung erhalten, nach Deutschland zurückzukehren. Und auch der damalige Kulturmanager des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) bei der Deutschen Jugend in Transkarpatien wurde dazu angehalten auszureisen.
Und dennoch: Ein großangelegter Angriffskrieg auf ihr Land erschien Natalia noch am Vorabend der Invasion als ein undenkbares Szenario – trotz der russischen Annexion der Krim und des Krieges im Donbass seit 2014. „Wir haben diesen Krieg hier im Westen kaum gespürt, er schien weit weg, fast 1500 Kilometer entfernt“, sagt sie. Als dann die ersten Raketen auf ukrainische Städte regnen, kann Natalia es immer noch kaum glauben. „Wir saßen voller Entsetzen den ganzen Tag vor dem Fernseher und haben die Nachrichten verfolgt. Wir wussten nicht, was weiter passieren würde – ob die Russen kommen und uns ausrauben werden, ob wir unsere Häuser verlassen und fliehen müssen.“
Trennung
Doch nach dem ersten Schreck reagiert Natalia schnell. Zum Zeitpunkt des russischen Überfalls ist gerade die Cousine ihres Mannes aus Stockholm zu Besuch bei der Familie. „Sie wollte einige Tage später zurück nach Schweden fliegen und hat sofort gesagt: ‚Ich nehme eure Kinder mit!‘ Meine beiden Söhne und meine Tochter wollten zwar nicht ohne Mama und Papa gehen, aber mein Mann und ich wollten sie in Sicherheit wissen. Also haben wir ein paar Sachen zusammengepackt und sind zur ungarischen Grenze gefahren, etwa 40 Kilometer von Mukatschewo entfernt. Ich habe meinen Kindern alle wichtigen Papiere und Dokumente und auch etwas Geld gegeben. Und dann haben wir uns voneinander verabschiedet, als würden wir uns nie wiedersehen“, erzählt Natalia unter Tränen.
Ihre drei Kinder und die Cousine gehen zu Fuß über die Grenze nach Ungarn – gemeinsam mit tausenden anderen Frauen, Kindern und sogar Haustieren. Auf der ungarischen Seite steigen sie in ein Taxi, fahren weiter nach Budapest zum dortigen Flughafen und fliegen nach Stockholm – in Sicherheit.
Natalia selbst bleibt zunächst noch bei ihrem Mann – der die Ukraine bis heute nicht verlassen darf – in Mukatschewo und engagiert sich für die vielen Binnenflüchtlinge, die schon kurz nach Kriegsbeginn in Transkarpatien ankommen. „Im Deutschen Haus in Mukatschewo haben wir alle Sprachkurse und Projekte sofort gestoppt und in unseren Räumlichkeiten alles für die Flüchtlinge vorbereitet. Von zu Hause haben wir Bettwäsche, Matratzen und Schlafsäcke in unser Zentrum gebracht und in jedem Raum Schlafmöglichkeiten hergerichtet – in erster Linie für jene Menschen, die auf der Flucht ins Ausland einen Zwischenstopp in unserer Stadt eingelegt haben”, erklärt Natalia. Auch an Lebensmitteln, Medikamenten, Hygieneartikeln, Windeln und Kleidung gibt es einen großen Bedarf, denn viele Menschen haben ihre Wohnungen und Häuser so kurzfristig verlassen müssen, dass sie nur einen kleinen Rucksack mit auf die Flucht nehmen konnten.
Neben ihrem eigenen unermüdlichen Einsatz kann sich die deutsche Minderheit in Mukatschewo auch auf die Unterstützung ihrer Partner aus Deutschland und Österreich verlassen. Natalia gibt ein Beispiel: „Unsere Freunde aus der Pfalz haben schon nach wenigen Tagen drei große Transporter mit humanitären Hilfsgütern zu uns nach Transkarpatien gefahren. Wir haben das Material an der Grenze in Empfang genommen, zu unserer Organisation gebracht, dort sortiert und auf Anfrage dann weiter in die kriegsgebeutelten Städte in der Ost- und Südukraine geschickt.“
Wiedersehen in Rheinland-Pfalz
Natalia ist von Anfang an voll in die Flüchtlingshilfe in Mukatschewo eingebunden – und doch fehlen ihr ihre Kinder natürlich in jeder Sekunde. Diese reisen nach etwa einem Monat in Stockholm weiter zu Freunden der Familie nach Neustadt an der Weinstraße in Rheinland-Pfalz. Natalia will ihre Tochter und ihre zwei Söhne unbedingt wiedersehen; also fährt sie über Prag ebenfalls in das idyllische Pfälzer Weinstädtchen. Einen Monat lang bleibt sie dort – vereint mit ihren Kindern. Im Sommer – nachdem sich abgezeichnet hat, dass der Krieg den Westen der Ukraine nicht erreichen wird – reisen die vier dann für einige Zeit zurück nach Transkarpatien, wo die 20-jährige Tochter ein Studium an der Nationalen Universität Uschhorod beginnt.
Momentan wohnt Natalia mit ihren zwei Söhnen wieder in Neustadt an der Weinstraße. Der jüngere der beiden ist 13 Jahre alt und besucht bereits eine deutsche Schule; sein großer Bruder wird im November volljährig. Er wolle in Deutschland studieren, allerdings werde sein ukrainisches Abitur dort nicht anerkannt, berichtet seine Mutter. „Derzeit sucht er nach einem geeigneten Studienkolleg und bereitet sich intensiv auf die Sprachprüfung vor. Ich unterstütze ihn dabei so gut es geht. Wenn alles klappt und er sein Studium beginnt, möchte ich mit dem Kleinen wieder zurück in die Ukraine gehen, zurück in meine Heimat“, sagt Natalia.
Sie selbst nimmt derzeit noch am Mentoringprogramm „Mind the Gap“ des ifa teil. Das unter der Schirmherrschaft von Natalie Pawlik, Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, stehende Programm unterstützt geflüchtete Frauen aus der Ukraine beim Zurechtfinden in jenem Land, das sie aufgenommen hat. Dafür bringt es die Ukrainerinnen im Rahmen eines Mentorings mit Vertreterinnen der deutschen Minderheiten zusammen. Mitte September fand im ifa-Sitz in Stuttgart das Einführungsseminar des Programms statt.
Natalia erzählt noch, dass sich die Situation in Mukatschewo mittlerweile beruhigt habe. Zwar gebe es noch viele Flüchtlinge in der Stadt und hin und wieder Luftalarm; im Allgemeinen sei aber schon wieder so etwas wie „Normalität“ in den Alltag der Einwohner eingekehrt. Und sie ergänzt: „Natürlich hoffen wir, dass der Krieg bald vorbei sein wird. Wir beten jeden Tag dafür. Immer haben wir diese unerträgliche Angst um unsere Männer, Brüder und Väter, die an der Front kämpfen. Das Ganze ist einfach eine Tragödie.“
Lucas Netter