Mitte Mai stand für sechs Schülerinnen aus Sensburg (Mrągowo) eine ganz besondere Exkursion an: Es ging nämlich auf eine mehrtägige Bildungsreise zum Pilecki-Institut nach Berlin. Im Rahmen von Workshops, Ausstellungsbesichtigungen und Gesprächsrunden vertieften die Jugendlichen dort ihr Wissen über die Widerstandsbewegungen des Zweiten Weltkrieges – und schlugen nicht zuletzt auch den Bogen zum aktuellen Krieg in der Ukraine.
Der Bildungsreise vorangegangen war Anfang April eine Projektwoche, die unter dem Titel „Wie gut kennst du die deutsche Minderheit? Lokale Geschichte entdecken – Kämpfer des Widerstandes“ stattfand. Knapp 30 Schülerinnen und Schüler des Schulkomplexes Nr. 2 in Sensburg hatten sich dabei fünf Tage lang mit der Geschichte der deutschen Minderheit in Ermland und Masuren sowie mit polnischen und deutschen Persönlichkeiten, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisteten, beschäftigt – und anschließend Essays über eben jene Widerstandskämpfer verfasst (siehe „Wochenblatt.pl“, Nr. 16/1567). Auf die Autoren – oder besser: die Autorinnen – der besten sechs Beiträge (die von einer unabhängigen Jury ausgewählt wurden) wartete als Preis nun die Bildungsreise zur Berliner Repräsentanz des Pilecki-Instituts.
Organisiert und verantwortet wurde die gesamte Initiative – also sowohl die Projektwoche in Sensburg als auch die kürzliche Studienfahrt zum Pilecki-Institut nach Berlin – von Julia Herzog, Kulturmanagerin des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) bei der Allensteiner Gesellschaft Deutscher Minderheit (AGDM) sowie beim Verband der deutschen Gesellschaften in Ermland und Masuren (VdGEM).
Intensives Programm im Pilecki-Institut
Die 16- bis 17-jährigen glücklichen Gewinnerinnen des Essaywettbewerbs – die sich auf zwei Jahrgangsstufen der Schule in Sensburg verteilen – begannen ihre aufregende Exkursion in die deutsche Hauptstadt am Montag, den 16. Mai – und zwar am Bahnhof in Allenstein (Olsztyn). Mit dabei war auch der Deutschlehrer Sebastian Jabłoński, der zugleich Vorsitzender der Sensburger Deutschen Gesellschaft „Bärentatze“ ist. Und natürlich Julia Herzog, die die Reise in wochenlanger Vorbereitung auf die Beine gestellt hatte. „Von Allenstein sind wir mit dem Zug über Posen (Poznań) bis zum Berliner Hauptbahnhof gefahren. Alle Teilnehmerinnen waren das erste Mal in Deutschland. Als wir in Berlin angekommen sind, hat sie die Energie der Stadt sofort eingenommen. Schon auf dem Weg zu unserem Hotel im Ortsteil Schöneberg habe ich gemerkt, dass zwei erfolgreiche Tage vor uns liegen“, so die Kulturmanagerin.
Doch so faszinierend Berlin auch sein mag: Die Jugendlichen waren nicht als Touristen in die Metropole an der Spree gekommen, sondern um etwas zu lernen. Also startete am folgenden Tag sogleich der inhaltliche Teil der Bildungsreise: Im Pilecki-Institut, das zentral am Pariser Platz gegenüber dem Brandenburger Tor liegt, wurde die Gruppe am Dienstagmorgen vom Leiter der Bildungsabteilung, Alexander Kliymuk, sowie von den beiden Mitarbeitern Rafał Ruciński und Maximilian Steinhoff empfangen. Die Pädagogen hießen die Schülerinnen willkommen und erklärten ihnen, mit welcher Intention das Institut hier im September 2019 eröffnet wurde und mit welchen Themen es sich beschäftigt.
Dann wurden die Jugendlichen auch schon selbst aktiv – und zwar mittels des zweisprachigen Zuordnungsspiels „Schlüsselmomente des Zweiten Weltkrieges in Polen“. „Das deutsch-polnische Kartenspiel war ein guter Einstieg, um herauszufinden, wie harmonisch die Schülerinnen zusammenarbeiten und wie fortgeschritten überhaupt ihre historischen Vorkenntnisse sind“, erklärt Julia Herzog.
Im Anschluss an dieses Warm-up stand eine Führung durch die gerade erst eröffnete Sonderausstellung „Ausgetragen – Die Pfadfinderpost im Warschauer Aufstand 1944“ auf dem Programm, die die Erinnerung an die jüngsten Aufständischen von damals wachhält und unter anderem von Alexander Kliymuk kuratiert wird. Die Teilnehmerinnen setzten sich hierbei mit den Themen Kindheit und Krieg, Widerstand sowie Zivilcourage auseinander – und gestalteten auch selbst einige Postkarten.
Zudem bereiteten die Inhalte der Ausstellung die jungen Leute auch auf den anschließenden Workshop „Warszawa 44 – Mariupol 22“ vor, der den Bezug zum aktuellen Krieg in der Ukraine herstellte. Im Rahmen des Workshops lasen die Schülerinnen sowohl Briefe aus dem Warschauer Aufstand im Jahr 1944 als auch Nachrichten aus der umkämpften ukrainischen Stadt Mariupol im Jahr 2022 – Twitter-Posts, Facebook-Einträge oder vorliegende SMS – vor. „Der Workshop war für uns alle sehr bewegend, denn die Inhalte der Nachrichten von damals und heute unterscheiden sich quasi nicht. Hier wie da sorgt man sich um seine Liebsten und hofft auf ein baldiges Ende der Gewalt“, so Julia Herzog.
Darüber hinaus wurden den Jugendlichen Fotografien von Maksym Lewin gezeigt. Der ukrainische Fotograf und Dokumentarfilmer war Anfang April nahe Kiew tot aufgefunden worden, erschossen von mutmaßlich russischen Soldaten. Er hatte den Krieg in seinem Land fotografisch dokumentiert. „Die Schülerinnen haben sich alle je eines seiner Bilder ausgesucht und ihre Gefühle beim Betrachten der Motive geschildert. Außerdem haben sie dargelegt, was der Begriff ‚Krieg‘ für sie persönlich bedeutet“, erzählt Julia Herzog.
Natürlich beschäftigten sich die Schülerinnen auch mit Witold Pilecki, dem Namensgeber des Instituts. Im Rahmen einer Präsentation von Rafał Ruciński und Maximilian Steinhoff wurde die Gruppe mit den Verdiensten des polnischen Offiziers und Widerstandskämpfers gegen die Nationalsozialisten vertraut gemacht. Im Untergeschoss des Pilecki-Instituts befindet sich zudem die Dauerausstellung über eben jene Persönlichkeit, die sich freiwillig gefangen nehmen und in das deutsche Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau bringen ließ – und so der Außenwelt die ersten Augenzeugenberichte über das Grauen des Holocaust lieferte. Wie Julia Herzog berichtet, habe das Pilecki-Institut die Räumlichkeiten dieser Ausstellung momentan aber zu einer Sammelstelle für die Ukraine-Hilfe umfunktioniert: „Zwischen den Ausstellungsgegenständen packen jetzt Freiwillige Pakete mit Medikamenten oder sonstigen Hilfsgütern und Sachspenden, die dann direkt in die Ukraine geschickt werden“, sagt die Kulturmanagerin.
Besuch der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Nach den intensiven Programmpunkten im Pilecki-Institut war der Tag für die Schülerinnen jedoch noch nicht beendet. Denn anschließend machten sie sich auf zur Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die sich im Gebäudekomplex des sogenannten Bendlerblocks – einem der zwei Dienstsitze des Bundesverteidigungsministeriums – befindet. Als historischer Ort, an dem sich einst die Widerstandsgruppe rund um den Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg organisierte, erinnert die Einrichtung an all jene Menschen, die sich in Deutschland zwischen 1933 und 1945 der nationalsozialistischen Diktatur entgegenstellten. „Angesichts des inhaltlichen Schwerpunkts der Bildungsreise war mir auch der Besuch dieser Gedenkstätte wichtig“, betont Julia Herzog.
Ein Mitarbeiter der Einrichtung brachte den Schülerinnen dabei die historischen Hintergründe und die heutige Bedeutung der Gedenkstätte näher. „Er hat der Gruppe erklärt, dass es Deutschland wichtig sei, diese Orte der Erinnerung zu erhalten, damit die damaligen Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten – und damit sich die Schrecken des Nationalsozialismus nicht wiederholen“, so Julia Herzog.
Mithilfe von Audioguides hat die Gruppe dann die Dauerausstellung der Gedenkstätte besichtigt. Dabei wurde sie auch in das ehemalige Dienstzimmer von Claus Schenk Graf von Stauffenberg geführt und hat sich jenen Saal angesehen, in dem wesentliche Elemente des Attentats vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler geplant wurden. Julia Herzog sagt: „So, wie wir uns schon vier Wochen zuvor während der Projektwoche in Sensburg mit polnischen und deutschen Widerstandskämpfern des Zweiten Weltkrieges – wie zum Beispiel Heinrich Graf von Lehndorff – beschäftigt und auch das Schloss Steinort besucht hatten, standen wir nun in von Stauffenbergs früherem Büro in Berlin. Das war für uns alle ein sehr ergreifender Moment.“
Mit diesen Eindrücken endete dann auch der erste Tag der Bildungsreise. Selbstverständlich ließ es sich die Gruppe aber nicht nehmen, auf dem Rückweg zum Hotel noch ein wenig Sightseeing rund um den Berliner Alexanderplatz zu betreiben.
Bomben auf Auschwitz?
Am darauffolgenden Mittwoch ging es im Pilecki-Institut aber schon wieder weiter mit dem inhaltlichen Programm der Bildungsreise. Neben einer Reflexion des vorherigen Tages berichteten die Jugendlichen zunächst, wie sie den Besuch der Gedenkstätte Deutscher Widerstand empfunden haben. Dann befassten sie sich mit der kontroversen Streitfrage: „Hätten die Alliierten das Konzentrationslager Auschwitz bombardieren sollen?“ Nach der Vorbereitung mit Argumentationshilfen brachten sie in einer spannenden Pro-und-Kontra-Diskussion, die von den Pädagogen des Pilecki-Instituts geleitet wurde, ihre jeweiligen Standpunkte vor.
Um nach dieser komplexen Debatte ein wenig in Bewegung zu kommen, stand mittags ein gemeinsamer Spaziergang in der unmittelbaren Umgebung des Pilecki-Instituts an. Klaudia Broßzeit, Mitarbeiterin der Bildungsabteilung, führte die Gruppe dabei zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, zum Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen sowie zum Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas.
Zurück im Pilecki-Institut tauschten sich die Jugendlichen noch über die verschiedenen Formen der Erinnerungskultur aus. Danach neigte sich die Bildungsreise aber auch „schon“ ihrem Ende zu und schloss mit einer Evaluierung der vergangenen zwei Tage. „Die Schülerinnen waren sehr zufrieden mit den Inhalten und dem Verlauf der Bildungsreise. Sie haben in ihrem Feedback gegenüber dem Pilecki-Institut nur Superlative vorgebracht. Und auch ich finde, dass das Ganze noch besser gelaufen ist, als ich es mir im Vorfeld ausgemalt habe – nicht zuletzt auch dank der Unterstützung von Sebastian Jabłoński während der gesamten Reise“, sagt Julia Herzog glücklich. Und sie fügt hinzu: „Ich bin Alexander Kliymuk und seinen Kollegen vom Pilecki-Institut sehr dankbar, dass sie die Themen ihrer Workshops individuell auf die Gruppe abgestimmt und die inhaltlichen Programmschwerpunkte entsprechend unserem Thema – Widerstand und Zweiter Weltkrieg – gesetzt haben. Die Jugendlichen haben sich die ganze Zeit über großartig beteiligt und mit ihren eigenen Gedanken eingebracht – trotz der anspruchsvollen Thematik. Ich bin mir sicher, dass sie einen bleibenden Eindruck von dieser Bildungsreise mit zurück nach Sensburg genommen haben.“
Lucas Netter
Die Bildungsreise wurde gefördert durch das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) aus Mitteln des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland.
Fotos: Julia Herzog