Wie Vater uns mit Schlager indoktrinierte
Man könnte sagen, dass ich Schlagerliebe mit der Muttermilch ausgesaugt habe. Es wäre aber eine Lüge, denn meine Mutter hatte nie viel übrig für Schlager, sie ist eher der klassische Typ. An jedem Tag würde sie Bach oder Mozart einem Heino oder einem Hansi Hinterseer vorziehen. Dafür liebt mein Vater deutschen Schlager umso mehr.
Und ich muss gestehen: Wir, als seine Familie, haben es ihm in dieser Hinsicht nie leichtgemacht. Sobald in einem von uns, seinen Kindern, sowas wie Musikgeschmack zu reifen begann, verpönten wir seine Schlagerliebe gnadenlos, machten uns über Wolfgang Petris Schnurrbart und die Outfits der Wildecker Herzbuben ohne Erbarmen lustig.

Sanften Herzens, wie mein Vater nun mal ist, hat er sich nie beschwert. Doch er praktizierte einen stillen, anhaltbaren Widerstand. Er ließ sich nie davon abbringen Schlager zu hören. Er versuchte uns immer wieder aufs Neue davon zu überzeugen, dass Marianne und Michael tolle Musik machen. Doch wenn er den Fernseher lauter aufgedreht hatte, schlossen sich Türen im ganzen Haus mit lautem Knall. Mutter verschwand in den Garten und Vater blieb allein mit Roland Kaiser und Co. Doch seine dauerhafte Resistenz führte zumindest zum Erfolg. Die deutschen Schlagerstars, wir kannten sie alle. Die Melodien und Reime haben sich in unserem Gedächtnis für immer verankert. Ohrwurme? Eher Gehirnwürme. Der Enzian blüht nun mal blau, ein bisschen Spaß muss sein und rote Lippen soll man küssen, koste es, was es wolle. Einmal vom Schlagerfieber gepackt, gab es kein Entkommen. Auch als passive Zuhörer stecken wir uns an.
Heute quält uns Vater nur noch auf WhatsApp mit Videos. Es ist aber nicht das Gleiche. Nur wenn wir am Sonntag zum Mittagessen kommen, müssen wir wieder um seine Aufmerksamkeit mit Kiwi und dem Fernsehgarten kämpfen. Natürlich stehen wir da auf verlorenem Posten.

