Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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Auf der Suche nach der Zeit

Mit acht Veranstaltungen an zehn sehr intensiven Tagen ist die diesjährige achte Ausgabe des Mendelsohnfestivals in Allenstein gestartet. Offizielle Eröffnung war am 6. Oktober, bis Ende November gibt es unter dem Motto „Zeit“ noch einige weitere Ereignisse, zu denen die Organisatoren von der Kulturgemeinschaft „Borussia“ ins örtliche Mendelsohnhaus einladen.

Er ist neben Nikolaus Kopernikus (1473–1543) der weltweit berühmteste Sohn der Stadt Allenstein: der jüdische Architekt Erich Mendelsohn (1887–1953). Noch als Student entwarf er für die jüdische Gemeinde der Stadt, deren Vorsitzender sein Vater war, das Haus der Begräbnisvorbereitung „Beth Tahara“, das von 1912 bis 1913 errichtet wurde. Zusammen mit dem etwas kleineren Gärtnerhaus steht es bis heute am Rand des jüdischen Friedhofs. Von den Gräbern ist nichts mehr zu sehen, lediglich in Bäume eingewachsene Reste von Grabsteinen, die bei der Einebnung des Geländes in den 1960er-Jahren nicht entfernt werden konnten.

Symbole am und um das Mendelsohnhaus

Die Fläche des Friedhofs wurde damals übrigens der evangelischen Kirche in Allenstein abgekauft, ein Zeichen dafür, dass es seinerzeit noch eine friedliche Zusammenarbeit gab und dass die jüdische Gemeinde eher fortschrittlich eingestellt war. „Das sieht man auch an der Farbgebung bei der früheren Beth Tahara“, so die Künstlerin Ewa Pohlke, die eine Führung zu Symbolen am Mendelsohnhaus machte. „Das Blau in den Fenstern und in den Mosaiken wäre für orthodoxe Juden nicht akzeptabel gewesen. Für die Davidssterne an den Türen gilt dasselbe.“

 

„Es ist klar erkennbar, dass das Innere des eigentlichen Raums der Begräbnisvorbereitung für die Lebenden bestimmt war, sie auf vieles hinweisen wollte“, stellte Ewa Romanowska von der Kulturgemeinschaft „Borussia“ fest. Die Kuppel als Pyramide oder Zelt erinnert an den Auszug aus Ägypten, die früher vorhandenen Zitate aus der Thora auf den Tragbalken, das Palmenmuster der Lampen und der Mosaike als Zeichen der Freude, und vor allem die Farben sind, wie Ewa Pohlke erklärte, Zeichen des Lebens: „Blau als Farbe des Wassers und Lebens, Grün für Pflanzen, Orange für Früchte. Doch die Grundfarbe, das Rosa-Violett, ist die Farbe der Reinigung und seelischen Veränderung.“

 

Von der Beth Tahara zum Mendelsohnhaus

Verändert hat sich im Laufe der 110 Jahre ihrer Existenz die Beth Tahara; sie diente ab etwa 1960 als Magazin des Stadtarchivs und wurde dann dank der „Borussia“ von 2005 bis 2012 einer Grundrenovierung unterzogen, über die die Konservatorin Julia Martino aus Thorn in einem Referat berichtete. Ein weiteres Jubiläum: das Mendelsohnhaus in der jetzigen Funktion gibt es seit zehn Jahren; seither ist dort der Sitz der „Borussia“. Eine Werkstatt, zwei Konzerte, eine Lesung jiddischer Dichterinnen und ein Stadtteilspaziergang ergänzten das dichte Programm der ersten zwei Wochenenden und zeigten die Aktivität von „Borussia“.

Begonnen hatte das 8.Mendelsohnfestival offiziell am 6. Oktober mit einem Treffen mit JarosławKurski von der „Gazeta Wyborcza“. Thema war sein Buch „dziady i dybuki“ (Ahnenfeier und Dibbuks), das über die Suche nach Verwandtschaft und jüdischen Vorfahren berichtet und die Wirkungen auf das Polen der Gegenwart ausleuchtet. Überschattet wurde der gelungene und zuschauerreiche Start durch den Angriff der Hamas auf Israel am folgenden Tag, bei dem auch Alex Dancyg, ein Historiker und Freund der „Borussia“, der vor zwei Jahren zu Gast war, aus einem Kibbuz entführt wurde.

 

Die große Politik mischt sich also wieder einmal direkt in den Alltag der Menschen ein. Trotzdem lohnt es sichauf jeden Fall, bis Ende November in Allenstein im Mendelsohnhaus vorbeizuschauen. Bereits am Freitag, den 20. Oktober um 17 Uhr, erwartet die Kulturgemeinschaft „Borussia“ Leszek Jodliński zu einem Autorentreffen mit dem Titel „Heikles oder vergessenes Erbe? Leere Stühle.Die Geschichte der Juden in Schlesien“. Weitere Informationen und Termine sind auf der Facebook-Seite der „Borussia“ zu finden.

Uwe Hahnkamp

 

Die Organisatoren des Mendelsohnfestivals bedanken sich für die finanzielle Unterstützung beim Goethe-Institut in Warschau, der Selbstverwaltung der Woiwodschaft Ermland-Masuren, der Selbstverwaltung der Stadt Allenstein und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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