Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

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“Ich habe geheult wie ein Schlosshund”

Mit Hannelore Boysen (Kutz), die am 18. April 1942 in Osterfelde, Kreis Neustettin in Pommern geboren wurde, sprach Manuela Leibig über ihre Flucht aus Pommern und Ankunft in Flensburg.

Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an die ersten Lebensjahre in Osterfelde zurückdenken?

Ich hatte eine Schwester und war wohl ein liebes Kind. In Flensburg habe ich noch zwei Schwestern dazubekommen. Meine Eltern hatten einen kleinen Bauernhof mit 10 Hektar Land. Der Ort ist ein Streudorf mit 80 Gehöfen, wie man das früher sagte, 40 davon stehen noch, das weiß ich, weil ich dort schon drei Mal gewesen bin. Die nächste kleine Stadt war Bärwalde. Ich erinnere mich noch gut daran, dass vor unserem Hauseingang immer größere Kästen mit einem Gitter drüber standen, an der einen Seite waren das die Gössel, also die kleinen Gänse und an der anderen waren es die Kücken. Das habe ich in Erinnerung behalten.

Hannelore Boysen
Foto; privat

Wie ist es dazu gekommen, dass Sie Ihr Haus verlassen haben?

Der Bürgermeister hat in einem ganz strengen Winter, mit viel Schnee, Frost und Glätte, gesagt, wir müssen alle raus. Die Dorfbewohner nahmen ihre Wagen, spannten die Pferde davor und dann ging es runter in den nächsten Ort. Das war nicht Bärwalde, sondern ein sechs Kilometer entfernter, an den Namen erinnere ich mich nicht mehr. Da waren wir wahrscheinlich zwei oder drei Tage und dann hieß es: wieder zurück. In dem langen Treck aus unserem Streudorf, weil ja alle raus mussten, waren viele Pferde verunglückt. Und dann sind wir wieder zurückgekommen, da waren in unserem Haus Russen und das Wohnzimmer war voll Stroh. Meine Eltern und alle Nachbarn hörten die Kühe schon von Weiten brüllen, weil sie in der Zeit, in der wir nicht da waren, nicht gemolken wurden. Die Russen sind Gott sei Dank verschwunden. Wir sind dann 1946 richtig auf die Flucht gegangen, sodass wir im Frühjahr unser Eigentum verlassen und uns auf den Weg gemacht haben. Mit vielen anderen aus dem Ort. Einige sind da geblieben.

Wie kam die Entscheidung, dass Sie 1946 das Haus verlassen haben?

Wir mussten gehen, das hatte alles der Bürgermeister geregelt. So habe ich es vage in Erinnerung, darüber wurde zu Hause eher wenig gesprochen, das interessierte uns Kinder später auch nicht. Wichtig war: durchzukommen. Wie es auf der Flucht wirklich war, das weiß ich auch nicht. Wir sind wohl mit dem Zug gekommnen, aber natürlich in den hinteren Wagen, wo man früher die Tiere mitgenommen hat. Und da saßen wir wohl alle. Es hat uns wohl insofern nicht interessiert, weil wir ja dann nach Flensburg gekommen sind, in die Duburg-Kaserne, die erstmal von den Flüchtlingen ausgeräumt werden musste. Da haben wir und ganz viele aus dem Dorf gewohnt. 18 Betten waren in dem großen Raum drin. In der Ecke stand ein Ofen, mit dem das Zimmer beheizt wurde. Später sind wir innerhalb der Kaserne in eine Wohnung umgezogen, wo unserer ganzen Familie ein Zimmer zu Verfügung stand. Unser Zimmer war ein Durchgangsraum für die Familie, die im Raum nebenan wohnte, mein Vater hat schließlich ein paar Bretter organisieren können, aus denen er eine Tür zwischen die Räume gemacht hat. In derselben Etage wohnte eine Mutter mit ihrer Tochter, die für einen Bauern, der Schafe züchtete, Wolle gesponnen hat. Wir Kinder saßen oft und schauten ihr bei der Arbeit zu, das war richtig schön.

“Als wir nach Flensburg kamen, hatten wir nur das, was wir tragen konnten.”

Wie kam es, dass Ihr Vater mitflüchten konnte?

Mein Vater war nur dabei, weil er in der Nähe als Soldat im Einsatz war. Er war mit einem anderen da abgehauen. Eine Harke auf dem Rücken, waren sie überwiegend nachts unterwegs. Immer wenn sie gefragt wurden, sagten sie: „raboti raboti“. Irgendwann haben sich ihre Wege getrennt und mein Vater ist allein nach Pommern nach Hause gekommen.

Woran erinnern Sie sich noch aus den Zeiten des Lebens in der Kaserne?

Meine Oma, die wollte immer nach Hause. Sie war dann schon etwas durcheinander, sie hat sich auch allein auf den Weg gemacht, wir Kinder mussten sie suchen. Sie wollte immer nur nach Pommern.

Was denken Sie, wieso erinnern Sie sich nicht an viele Einzelheiten der Flucht?

Die Erwachsenen haben sich immer in der Kaserne getroffen, mal abends zusammen gesessen und haben darüber gesprochen. Und für uns Kinder war es kein Thema: “Oh nein, schon wieder!” Wir haben es gar nicht verinnerlicht. Für uns war ja jetzt dies eine neue …Heimat kann man nicht gleich sagen, weil wir viel zu jung waren.

Wurde Ihnen als Kind die Flucht unter die Nase gerieben?

Ja, als wir in die Schule gingen. Die einheimischen Kinder waren hässlich in ihrem Sprechen mit uns. Wir waren viele Kinder aus der Kaserne und die einheimischen Kinder haben so ein Lied gesungen, in dem wir beschimpft wurden, ich kann mich aber an die Worte nicht mehr erinnern. Eins weiß ich noch: „Flüchtlingspack! Flüchtlingspack! Hat Lüs über Nack“, also dass wir Läuse haben.

Sie haben sich aber trotz aller Widrigkeiten durchgeschlagen und sogar Ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht.

Meine Mutter hat ja immer gestrickt, vor allem Sachen für uns Kinder, das habe ich auch sehr schnell gelernt. Ich konnte alles mit den Händen. Ich habe also immer gestrickt, Wolle und Schafe waren eine Leidenschaft von mir. Einmal waren wir mit meinem Mann Peter und unseren Freunden in Österreich. Da haben wir einen Bauernhof gesehen, wo Flachs angebaut wurde, und die Besitzer haben selber gewoben, gesponnen und hatten wunderschöne Leinenstoffe in großen alten Schränken. Da habe ich glatt nach einem alten Spinnrad gefragt, und es bekommen. Das Spinnrad habe ich dann über 1000 Kilometer aus Österreich nach Flensburg auf dem Schoß gehabt. Wir haben uns noch verfahren, wodurch die Strecke noch länger wurde, aber das war mir egal, denn ich hatte mein Spinnrad. Meine Oma hat ja zu Hause in Osterfelde immer schon gesponnen. Wir Kinder durften nicht so gerne ran, weil wir das verwurschtelten, es wurde ja sehr dünn gesponnen. In der Zeitung las ich einen Artikel über eine Frau, die gesponnen, gezwirnt und gewoben hat, sie hatte einen Laden in Harrislee, in einem Ort hier in der Nähe. Zu der bin ich mit meinem Spinnrad hin, und sie hat mir einiges zeigen können, sie hat mir sogar beigebracht mit der Handspindel zu spinnen. Zu solchen Treffen kam auch Ulrike, mit der wir zusammen von Anna gelernt haben. Dann kam auch unser erster Einsatz als Lehrerinnen des Faches, und zwar für Schülerinnen, die eine Ausstellung zum Spinnen und Zwirnen in der Dänischen Bibliothek in Flensburg besuchten. Ich bin 1978 ins „Haus der Familie“ gegangen, wo man Kurse geben konnte. Ich dachte, das muss jetzt an die Leute. Und die Kurse waren brechend voll. Ich habe gesponnen, gestrickt und sonnabends 5 Stunden gefilzt. Auch meine Kinder Claudia und Sven haben als Kinder schon Stricken gelernt.

Hanne Boysen am Spinnrad Foto: Privat

Sie haben auch einen Laden gehabt.

1977 habe ich den Laden in der Duburger Straße aufgemacht, wo ich u. a. Stoffe und allerlei handgestrickte Sachen angeboten habe. Es war für mich die Erfüllung meiner Träume. Der Laden hielt sich gut, es ging von Mund zu Mund, mein Mann hat auch in der Zeitung angerufen und beim Radio, sodass wir auch da präsent waren. Ich fuhr von einem Dorf zum anderen, überall wollten die Leute Kurse haben. Aufgehört habe ich nach 44 Jahren.

Wie sehen die Kontakte mit den Pommern gegenwärtig aus?

Wir haben jahrelang einmal im Jahr ein Pommern-Treffen gehabt, und zwar in Techau bei Neumünster, hier bei uns in Schleswig-Holstein. Doch mit der Zeit hat das aufgehört, denn die meisten sind verstorben und die nachgekommenen Generationen fühlen sich mit Pommern und dem Land nicht mehr verbunden.

Wann haben Sie das erste Mal ihren Geburtsort Osterfelde besucht?

Oh, das war spät. Die Leute aus unserem Dorf haben sich schon wesentlich früher zusammengetan und sind für ein paar Tage nach Osterfelde gefahren. Meine Mutter wollte auch mit, aber mein Vater sagte ihr immer, dass sie nur weinen wird und dass sie nicht mitsoll. Und sie ist auch nie mitgefahren. Die Berichte, die unsere Landsleute anfangs mitgebracht haben, waren nicht besonders positiv, denn die neuen Bewohner dachten, wir nehmen die Häuser wieder zurück, dass wir da wieder einziehen wollen. Mit der Zeit legte sich das. 1997 bin ich mit einer Reisegesellschaft nach Danzig mitgefahren und auf dem Rückweg waren wir in der Nähe von Osterfelde, da habe ich auf dem Markt Kartoffeln und Tomaten gekauft. Meine Mutter hat sich so gefreut: „Kartoffeln und Tomaten aus der Heimat!“ Ein Jahr später fuhr ich dann mit nach Osterfelde. Das war sehr schön, denn meine Landsleute haben schon jahrelang Freundschaften mit den neuen Bewohnern unseres Dorfes gepflegt, da lebte eine ältere Frau, wir nannten sie alle Oma Irene, die hat uns sowas Leckeres vorbereitet, das so in Fett gebraten wurde. Da habe ich mir direkt das Rezept geben lassen. Wir brachten ihnen auch Kaffee und Schokolade mit. Oma Irene besorgte uns den Schlüssel in die Kirche, sodass wir auch in unsere Kirche durften. Vor der Kirche waren noch Grabsteine, z. B. von einem meiner Onkel. In den drei Tagen, die wir da waren, sind wir das ganze Dorf abgegangen und alle Gehöfte, die noch standen, haben wir uns angeschaut.

Sie durften auch in Ihr Geburtshaus.

Ja. Ich hatte eine Tasche mit Wolle, Schokolade und Kaffee dabei und einen Zettel, auf dem stand, dass meine Eltern nicht mehr leben und ich gerne unser Haus sehen möchte. Den Zettel habe ich dem neuem Besitzer gegeben, der konnte das aber gar nicht lesen, weil ich das auf Deutsch geschrieben habe. Der kam gleich raus und machte die Tür auf. Ich habe geheult wie ein Schlosshund, als ich über die Schwelle ging. Rechts das Wohnzimmer, geradeaus war die Küche, unser großer Herd war noch da, mit solchen Töpfen in orange und braun, das war so schön. Ich habe die meiste Zeit nur geheult.

Ende der 1990er-Jahre: Kachelofen im Geburtshaus von Hannelore Boysen (geborene Kutz) in Osterfelde, Kreis Neustettin in Pommern Foto: Privat

Sie sammeln leidenschaftlich alte Haushaltsgegenstände. Warum?

Ich glaube, es liegt daran, dass ich mir damit ein Stück Heimat schaffen wollte. Als wir nach Flensburg kamen, hatten wir nur das, was wir tragen konnten. Ich lagere es nicht auf dem Dachboden, sondern präsentiere all die Sachen. Handwerkzeuge für die Feldarbeit im Garten und solche Sachen wie Fleischwolf oder Sieb sind in meinem Haus zu sehen. Manche der Sachen wie die Kaffeemühle nutze ich auch immer noch im Alltag.

Manuela Leibig

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