Christoph Hein gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Auf Einladung der Breslauer Deutschen Minderheit (DSKG) und des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) kam er zur Autorenlesung in die niederschlesische Hauptstadt. Mit ihm sprach ifa-Kulturmanagerin Daria Leduck.
Herr Hein, Sie besuchen Breslau nicht zum ersten Mal. Was verbindet Sie mit der Stadt?
Ich bin 40 Kilometer entfernt geboren worden. Ich habe bis zum Januar 1945 mit den Eltern hier gelebt, bis wir vertrieben wurden. Meine Eltern und die Freunde der Eltern und alle, die aus Schlesien damals vertrieben wurden, haben immer wieder von Schlesien gesprochen, so dass ich schon als Kind viele Eindrücke von der Umgebung um Wrocław/Breslau hatte und immer wieder gern hierhergekommen bin.
Auch in Ihrem 2004 erschienenen Roman “Landnahme” taucht die Stadt Breslau auf. Die Hauptfigur, Bernhard Haber, wird mit seiner Familie aus Breslau vertrieben. Warum haben Sie sich dazu entschlossen, die Geschichte eines Vertriebenen zu erzählen?
Na ja, es ist im Grunde auch meine Geschichte. Bernhard Haber ist ein Jahr jünger als ich, aber vieles von dem, was er erlebt hat, habe ich auch erlebt. Bei mir war aber auch vieles anders. Ich komme aus einem Pfarrhaushalt, da hatten wir Glück, dass wir in dem verbliebenen Deutschland eine Pfarrwohnung bekommen haben. Viele andere Vertriebene haben keine Wohnung bekommen. Sie wurden irgendwo in einen Stall eingesperrt oder wurden auf einer Dachkammer untergebracht. In der Hinsicht ging es mir also besser, aber ich habe natürlich auch die Erfahrung gemacht, dass man in der neuen Kommune, wo man ankam, nicht dazu gehörte. Die Ablehnung der Vertriebenen 1945 und die Ablehnung gegenüber Migranten heute – das sind durchaus vergleichbare Erfahrungen.
„Landnahme“ – Worauf bezieht sich der Titel des Romans? Auf die deutsch-polnische Grenzverschiebung nach dem Krieg?
Es ist die persönliche Landnahme von Bernhard Haber. Er will ankommen in dieser fremden Stadt, in diesem verbliebenen Deutschland. Und dafür ist er zu vielem bereit. Selbst die Ermordung seines Vaters klagt er nicht an. Denn wenn er das tun würde, würde er wieder herausfliegen aus der Gemeinschaft. Also schluckt er sehr viel und er kämpft darum anzukommen. Und diese Kämpfe, das ist seine Landnahme.
Das Wort war sehr lange aus unserem Sprachgebrauch verschwunden. Erst mit Erscheinen des Romans hat es den Weg in unsere Sprache zurück gefunden. Dabei ist Landnahme seit zweitausend Jahren Kriegsgrund Nummer eins. Es ging immer um Landnahme. Das hat Hitler versucht, und das hat dann Stalin versucht.
Warum gibt es keine polnische Übersetzung des Romans?
Das weiß ich nicht. Ich hatte eine polnische Übersetzung eigentlich auch erwartet, eher eigentlich als die englische. Aber die polnische ist noch nicht in Sicht.
Wie Bernhard Haber, der Protagonist von “Landnahme”, sind auch Sie nicht in Ihrer ursprünglichen Heimat aufgewachsen. Ihr niederschlesischer Geburtsort Heinzendorf liegt heute in Polen. War der Heimatverlust bei Ihnen zu Hause ein Thema? Was ist Heimat für Sie?
Für meine Eltern und die Freunde meiner Eltern war es ein Thema, das waren erwachsene Menschen. Ich war noch zu klein. Ich hatte als Einjähriger keine Erinnerungen an die Landschaft oder an dieses Dorf. Aber ich merke sehr stark, dass ich dadurch auch gar keine Heimat habe. In Deutschland habe ich in verschiedenen Städten gewohnt, viele waren mir angenehm. Ich wohne seit zehn Jahren in einer Kleinstadt, nachdem ich fünfzig Jahre in Berlin gewohnt habe, aber heimatliche Gefühle habe ich nicht, weil irgendwas fehlt.
Also wahrscheinlich gehört zur Heimat auch der Geburtsort und der fehlt mir, obwohl er gar nicht eindrücklich wurde. Ich habe da keine Verluste, anders als die Generation meiner Eltern, aber ich habe auch keinen anderen neuen Heimatort gewonnen. Ich lebe in der einen Stadt gern und in der anderen und ich kann leicht wechseln. Mir klebt nichts an den Füßen. Es fehlt mir etwas, klar, aber ich bin auch freier als andere.
Meinen Sie, dass sich der Heimatbegriff für junge Menschen heute verändert hat?
Ja, ich denke schon. Es hat sich etwas verändert und zwar weltweit. Dieser Drang in die Stadt. Wir erleben das in den USA, wir erleben es in Deutschland, auch hier in Polen, ganz stark in China. Die Jugend drängt in die Städte, dort sind bessere Verdienstmöglichkeiten, bessere Arbeitsmöglichkeiten.
Heimat im traditionellen Sinne, als der Ort, wo die Großmutter wohnt, gibt es nicht mehr.
In der modernen Arbeitswelt gibt es auch die Großfamilie, die an einem Ort zusammen lebt, nicht mehr. Die Kinder leben in anderen Städten oder im Ausland.
Denn ich kriege heute eine Stelle in Boston und morgen wird mir eine in Petersburg angeboten, also durch die Veränderung der Arbeitswelt hat sich natürlich auch der Heimatbegriff verändert. Vor hundert Jahren war es undenkbar, dass man den Großvater, den Urgroßvater und die Großmutter verlässt. Der einzige Grund, dass man vor hundert Jahren ins Ausland ging, waren Kriege. Sonst blieb man im Dorf und heiratete ein Mädchen aus dem Nachbardorf.
In der Lesereihe „Vertrieben“ werden Bücher vorgestellt, die das Thema der Vertreibung aus deutscher, jüdischer und polnischer Sicht und mit Bezug auf die Stadt Breslau beleuchten. Mehr Infos unter www.ntkswroclaw.vdg.pl