Seit den ersten Tagen des vollumfänglichen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine stehen wir mit Angehörigen der örtlichen deutschen Minderheit in Kontakt. Eine von ihnen ist Julia Bogdan aus Cherson. Mitte April 2022 floh die Deutschlehrerin mit ihren beiden Töchtern und ihrer Mutter nach München, ist dort mittlerweile für die Johanniter-Unfall-Hilfe tätig. Nun kehrte sie für einige Tage in ihr Heimatland zurück – als Begleiterin eines Hilfstransports.
Mitte vergangener Woche erreichen wir Julia Bogdan am Telefon. Sie hat viel zu tun, ihr Alltag ist prall gefüllt, trotzdem nimmt sie sich Zeit für ein kurzes Gespräch. Sie erzählt, dass sie erst vor ein paar Tagen aus Lemberg zurückgekommen sei. Dorthin hatte sie vier Volontäre aus Norddeutschland bei einem Hilfstransport begleitet. „Zum einen habe ich die Freiwilligen dabei unterstützt, Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen, einen Einblick in die Situation vor Ort zu erhalten und zu verstehen, in welcher Lage sich die Menschen in meiner Heimat befinden. Zum anderen habe ich meinen Landsleuten dabei geholfen, mehr humanitäre Hilfe zu bekommen. Darüber freue ich mich sehr“, so die Deutschlehrerin und Leiterin der Chersoner Jugendorganisation der deutschen Minderheit „Partnerschaft“.
Die freiwilligen Helfer aus Deutschland, das sind Bernd Klausing und seine Lebensgefährtin Yvonn Rebling aus dem niedersächsischen Springe, Enno König als Mitorganisator sowie Kathrin Ehrke von der in Hannover beheimateten Initiative „Ukrainischer Verein in Niedersachsen“. Julia Bogdan ist als Dolmetscherin bei der Fahrt nach Lemberg dabei. Der Kontakt zu den vier Deutschen kam über einige ihrer Bekannten in der Ukraine zustande.
Über Polen in die Ukraine
Die Hilfsgüter, die die Gruppe in die Westukraine bringt – mehrere Paletten mit Lebensmitteln, Süßigkeiten für Kinder, Kleidung, Medikamenten und Medizintechnik – haben einen Wert von etwa 20.000 Euro, die zuvor über Spenden gesammelt wurden – „eine Heldentat“, findet Julia Bogdan angesichts der Höhe der Summe.
Sie sagt aber auch, dass die Unterstützung für die Ukraine in den letzten Monaten insgesamt etwas abgeflaut sei. „Nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Ausland sind die Menschen diesen Krieg einfach leid“, erklärt sie – und fügt eindringlich hinzu: „Das Schlimmste, was jetzt passieren kann, ist Gleichgültigkeit. Eine Haltung nach dem Motto ‚Der Krieg passiert nicht bei mir, er passiert irgendwo anders‘ ermuntert Russland nur zu weiteren Angriffen. Gerade jetzt dürfen die Solidarität und die Unterstützung nicht nachlassen.“
Julia Bogdan und die vier deutschen Freiwilligen lassen sich von solchen Entwicklungen aber ohnehin nicht entmutigen – im Gegenteil. In einem mit den Hilfsgütern vollgepackten Mercedes-Sprinter geht es am 28. September von Hannover über Berlin, Breslau, Krakau und Rzeszów in die Ukraine. Das Ziel: ein Zwischenlager im Raum Lemberg, von wo aus die Waren nach Odessa und in das Hochwassergebiet rund um den zerstörten Kachowka-Staudamm gebracht werden sollen.
Wo genau sich dieses Lager befindet, möchte Julia Bogdan lieber nicht sagen. „Die Russen lesen die Nachrichten in den sozialen Medien und bei Telegram, analysieren Fotos und Zeitungsartikel – und wenn sie die Standorte dieser Lager herausgefunden haben, beschießen sie sie mit ihren Raketen“, erklärt die Deutschlehrerin. Erst Mitte September wurde ein solches Lagerhaus in Lemberg durch russische Luftangriffe zerstört; nach Angaben der Hilfsorganisation „Caritas international“ seien dabei 300 Tonnen westliche Hilfsgüter vernichtet und mindestens ein Mensch getötet worden.
Die Gruppe aus Deutschland hat Glück und bleibt von solch gefährlichen Situationen verschont; nur einmal während ihrer mehrtägigen „Reise“ gibt es Luftalarm – ausgelöst für das gesamte Land, weil irgendwo russische Kampfflugzeuge hochgestiegen sind. Die Warnung gilt also nicht speziell für die Region im Westen des Landes, Nervosität ruft sie trotzdem hervor. Denn eine potenzielle Gefahr gibt es immer, auch in der Westukraine, fern der Front.
In dem Zwischenlager bei Lemberg trifft das Team auch mit zwei Volontären aus Cherson, Oleksii Beletskyi und Stanyslav Borodashkin, zusammen. Als Dank für die Hilfslieferung schenken diese den Gästen aus Deutschland einige Wassermelonen aus dem befreiten Teil ihrer Heimatstadt. Die Region um die Großstadt im Süden des Landes ist bekannt für besonders saftige Wassermelonen – doch die waren in der letzten Saison in den Händen der russischen Besatzer. Nun wird die Frucht zum Symbol der Freiheit, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Auf den Spuren der Familiengeschichte
Nach der Übergabe der Hilfsgüter hat die Gruppe dann noch etwas Zeit für ein anderes „Projekt“: Gemeinsam mit Oleksii und Stanyslav fährt sie in das Dorf Kultschyzi (auf Polnisch: Kulczyce), etwa 80 Kilometer südwestlich von Lemberg. Denn in dieser Gegend wurde der Großvater von Bernd Klausing, einer der deutschen Freiwilligen, geboren. Vor Ort warten schon der ortsansässige Priester und die Ortsvorsteher.
Und tatsächlich: Im Dorfmuseum finden sich Nachweise, die die Existenz der Vorfahren Klausings in dem Ort bestätigen. Außerdem macht die Gruppe auf dem Friedhof das Grab von dessen Ur-Ur-Großmutter ausfindig – ein für Bernd Klausing tief bewegender Moment, wie Julia Bogdan berichtet.
Auch einen Ausflug in den Nationalpark Skoler Beskiden in den Bergen unternimmt die Gruppe. „Wir wollten den Deutschen zeigen, wie schön die Karpaten sind – und wie schön die Ukraine überhaupt war, bis dieser verrückte Putin uns angegriffen hat“, so Julia Bogdan.
Der Optimismus bleibt
Am 1. Oktober machen sich die deutschen Freiwilligen dann wieder auf den Weg zurück nach Hannover, Oleksii und Stanyslav bringen die Hilfslieferung aus Deutschland weiter nach Odessa. Julia Bogdan bleibt noch einen Tag länger in Lemberg, tauscht sich mit anderen ukrainischen Volontären über zukünftige Aktionen aus. „Einerseits habe ich mich sehr gefreut, mein Heimatland mal wieder zu besuchen. Andererseits erfüllt mich das Leid, das das ukrainische Volk tagtäglich erfahren muss, mit tiefer Trauer“, sagt sie.
Doch die Deutschlehrerin bleibt optimistisch. Sie ist zufrieden, dass durch die Spenden die Not der Bevölkerung etwas gelindert werden konnte. „Diese Fahrt war wirklich eine tolle Motivation, weiter freiwillig zu arbeiten und den Menschen zu helfen. Das ist wirklich etwas Besonderes für mich“, betont sie.
Für Julia Bogdan steht fest: Sie wird ihr Land auch in Zukunft nach Kräften unterstützen – so lange wie nötig.
Lucas Netter