Ein kleiner Ort an der polnischen Ostsee will einen alten deutschen Friedhof retten. Erste Schritte sind bereits getan.
Rowe, ein Ostseebadeort in der Woiwodschaft Pommern. Bis 1945 deutsch, heute polnisch, in der Landessprache heißt er Rowy. Hier leben rund 350 Menschen. Einige von ihnen schon ihr ganzes Leben lang, so wie Jadwiga Fudala.
1950 kommt sie hier zur Welt. Der Zweite Weltkrieg ist gerade fünf Jahre vorbei und das Chaos, in das Nazi-Deutschland die Welt gestürzt hat, allgegenwärtig. Trotzdem pflegt die polnische Familie Freundschaften zu einigen deutschen Bewohnern, die nicht geflüchtet oder vertrieben worden sind, als die Sowjetunion 1945 aus der deutschen Stadt eine polnische machte. Besonders gern erinnert sich die 70-Jährige an Ilse, die Nachbarin, zu der sie sogar Tante sagt. An die langen Tage in den Sommern ihrer Kindheit, die sie häufig gemeinsam im Haus von Jadwigas Eltern verbringen. „Ilse hat auf dem Harmonium gespielt und Mutter hat gekocht. Es war traumhaft. Sie gehörte irgendwann zur Familie.“
Deutsche und Polen leben im Einvernehmen
Dass Deutsche und Polen im Einvernehmen miteinander leben, ist für Ilse immer das Natürlichste von der Welt gewesen. Als sie in ihrer Heimatstadt Ortsvorsteherin wird, prägt ihr Verständnis von der deutsch-polnischen Völkerfreundschaft auch ihre politischen Aktivitäten. Vielerorts sind in Rowe Tafeln zu finden, die die deutsche Geschichte der Stadt thematisieren. „Viele Touristen interessiert das“, freut sich Jadwiga.
Den Kommunisten ein Dorn im Auge
Das Herzstück ihrer Arbeit ist der alte evangelische Friedhof, der sich auf einem Hügel befindet. Seit 1945 wird hier niemand mehr begraben. Schon als Kind fühlt sie sich zu diesem Ort hingezogen und entzündet regelmäßig Kerzen an den verlassenen Gräbern. Später beginnt sie, ihn herzurichten, den Rasen zu mähen und die Bäume zurecht zu schneiden.
Und plötzlich, erinnert sich Jadwiga, war der Friedhof verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Das war in den 1960er Jahren. In dieser Zeit trifft viele deutsche Friedhöfe auf polnischem Gebiet das gleiche Schicksal. Die kommunistischen Machthaber sehen in ihnen ein unliebsames Erbe, das es unbedingt auszuradieren gilt.
Noch immer aber birgt dieses Fleckchen Erde unter der Oberfläche letzte Relikte jener Tage vor 1945.
Gemeinsam Geschichte bewahren
Das weiß auch Jadwiga, und sie beschließt, die alten Grabsteine und schmiedeeisernen Kreuze zu bergen und zu konservieren. Das schafft sie nicht allein, deshalb bittet sie die deutsche Minderheit um Mithilfe, ebenso den lokalen Geschichtsverein „Orzeł“ (Adler). Die Non-Profit-Organisation setzt sich seit einigen Jahren für das regionale Identitätsbewusstsein in der Touristenregion ein, unter anderem pflegt sie historische Anlagen wie eben alte Friedhöfe. Obwohl der Verein sich selbst als polnisch und patriotisch versteht, bedeutet das für „Orzeł” aber nicht, die Augen vor der Geschichte der Region zu verschließen, die nun einmal eine deutsche war und so laut Verein auch erzählt werden sollte. So war der Verein offen für die Zusammenarbeit mit der deutschen Minderheit und stellte beispielsweise Metalldetektoren zur Verfügung.
Unterstützung aus Schlesien
Der in Oppeln ansässige Dachverband der deutschen Minderheit in Polen (VdG) entscheidet, dass es Jugendliche sein sollen, die die Arbeiten auf dem Rower Friedhof übernehmen. Bereits im vergangenen Jahr hat sich eine Gruppe junger Menschen aus den Woiwodschaften Schlesien und Oppeln auf den Weg nach Nordpolen gemacht, um das Friedhofsgelände nach verborgenen Schätzen abzusuchen. „Eine lebendige Begegnung mit der Vergangenheit und mit der Geschichte der deutschen Minderheit. Viele Jugendliche aus den schlesischen Regionen wussten gar nicht, dass im Norden Deutsche lebten“, sagt Beata Sordon vom VdG.
In der ersten Juliwoche 2020 sind die Arbeiten aus dem vergangenen Jahr fortgesetzt worden. Oliwia Lagla aus Krascheow ist zum ersten Mal dabei. Besonders berührt sie der Fund eines Kreuzes aus Gusseisen, in dessen Mitte sich ein Porzellan-Medaillon befindet. Es gehörte einem zweijährigen Mädchen. „Für mich war es eine Genugtuung dazu beizutragen, die vergrabene Geschichte ans Tageslicht zu tragen“, sagt die 16-Jährige fast poetisch.
Den Verstorbenen ein Gesicht geben
Jadwiga Fudala freut sich über die Hilfe und das große Interesse der Jugendlichen. Über 30 Fundstücke haben sie der Ortsvorsteherin übergeben. Jadwiga will auf dem alten Friedhof ein Lapidarium entstehen lassen, also eine Sammlung von Steinwerken, die an die Verstorbenen erinnert. Ihre Namen sollen in Zukunft auf einer Tafel zu lesen sein. Für Jadwiga schließt sich damit der Kreis. Auch sie findet Genugtuung. Genugtuung, dass am Ende etwas bleibt. „Viele Nachkommen finden den Weg zu uns. Wir machen das auch für sie.“
Text: Marie Baumgarten
Foto: VdG