Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

Wochenblatt – Gazeta Niemców w Rzeczypospolitej Polskiej

„Das war ein Trauma. Verstehen Sie?“

Die neue Ausgabe der Zeitschrift „Spiegel Geschichte“ beschäftigt sich mit dem Heimatverlust der Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten im Zuge des Zweiten Weltkrieges. Einer der vielen lesenswerten Artikel des Hefts erzählt dabei von den leidvollen Erfahrungen eines alten Bekannten aus den Reihen der deutschen Minderheit in Polen.

Am 8. Mai 1985 hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Deutschen Bundestag eine historische Rede. Anlässlich des 40. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa sagte er unter anderem: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

Angelehnt an diese berühmt gewordenen Worte lässt auch die neue Ausgabe von „Spiegel Geschichte“ keinen Zweifel an den Ursachen des Heimatverlusts von etwa 14 Millionen Deutschen während und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Unter dem Titel „Verlorene Heimat. Flucht und Vertreibung: Hitlers Krieg und die Folgen“ beschäftigen sich die Autoren des Hefts mit den Hintergründen der damaligen Ereignisse, erinnern an die Schicksale der betroffenen Menschen – und erklären, „warum die nationalsozialistische Politik die eigentliche Verantwortung trug für die größte Fluchtbewegung in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.“ Am Beispiel der finnischen Karelier sowie der Folgen der Aktion Weichsel im Jahr 1947 zeigen sie zudem, „dass die gefährliche Idee, dass Nationen nur Angehörige eines ‚Volkes‘ umfassen sollten, damals vielerorts Vertreibungen legitimierte.“

Mehr als 20 Artikel auf knapp 150 Seiten

Im Mittelpunkt stehen aber die Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, aus Pommern, Ostpreußen und Schlesien, die im Winter 1944/45 in Richtung Westen flohen oder später vertrieben wurden. Bis heute ist ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung familiär mit der Thematik Vertreibung verbunden. Und die Traumata wirken vielfach bis heute nach: So erzählt der „Spiegel“-Journalist Markus Deggerich in dem Magazin eindrücklich die Geschichte seines Vaters, der 1945 aus Niederschlesien flüchten musste und dessen Erfahrungen das Familienleben lange Zeit geprägt haben.

Das Cover der Zeitschrift zeigt Frauen und Kinder auf der Flucht in Danzig im März 1945.
Foto: Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG

Lesenswert ist auch das Interview mit den beiden Historikern Gundula Bavendamm und Stefan Troebst, die darlegen, inwieweit den Erzählungen der Vorfahren zu vertrauen ist und warum die Deutschen ein Recht auf Trauern haben, obwohl sie die Täternation waren. „Ich halte es für wichtig, dass die Gesellschaft hierzulande in der Lage ist, um die eigenen Opfer zu trauern und sich gleichzeitig der bleibenden Verantwortung aufgrund der deutschen Verbrechen bewusst ist. Das gehört für mich zu einer reifen Erinnerungskultur. Es ist aber auch eine hohe Kunst, die richtige Balance zu halten“, so Bavendamm in dem Gespräch.

Weitere Themen des Hefts sind unter anderem die sogenannte Polenaktion im Oktober 1938, der alles andere als leichte Neuanfang der Geflüchteten im Nachkriegsdeutschland, die „Flüchtlingsstadt“ Espelkamp, die Rolle der Vertriebenenverbände und die dramatische Flucht der Publizistin Marion Gräfin Dönhoff (1909–2022) aus dem früheren Ostpreußen nach Westfalen. Auch eine Anleitung, wie man die Fluchtgeschichte der eigenen Familie recherchieren kann, findet sich in dem Magazin. Zwischendurch – vielleicht, um die schwierige Thematik etwas aufzulockern – gibt es verschiedene Rezepte traditioneller Gerichte, darunter Pommerscher Heringssalat und Schlesische Mohnkließla.

Das Schicksal der Kinder

Ein weiterer Schwerpunkt: die Aufarbeitung des Schicksals der Kinder – denn Tausende Waisen wurden 1945 in Ostpreußen, Pommern und Schlesien zurückgelassen.

In dem betreffenden Artikel wird der masurische Sozialaktivist Dr. Alfred Czesla porträtiert, der in der Vergangenheit auch des Öfteren (historische) Artikel für das „Wochenblatt.pl“ verfasste. „Czesla liest deutschsprachige Zeitungen, trinkt bayerisches Weizenbier und macht seine Einkäufe in Olsztyn bei Lidl oder Kaufland“, heißt es in dem Text über den 78-Jährigen. Er habe sich immer als Deutscher gefühlt.

Dr. Alfred Czesla im Jahr 2011
Foto: privat

Der Leser erfährt zudem, dass Czeslas Vater und Mutter im Laufe des Jahres 1945 starben; der junge Alfred wuchs hauptsächlich in Waisenhäusern auf. „Ich habe die Augen meiner Eltern nie gesehen. Das war ein Trauma. Verstehen Sie?“, wird er von dem Autor zitiert.

Allein für die Lektüre dieses feinfühlig verfassten Textes lohnt sich ein Blick in die neue Ausgabe von „Spiegel Geschichte“.

Lucas Netter

„Spiegel Geschichte“ – Ausgabe 6/2023
Verlorene Heimat. Flucht und Vertreibung: Hitlers Krieg und die Folgen
Herausgeber: Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG
Sprache: Deutsch
Seitenzahl: 148
Preis: 9,90 Euro
In Deutschland ist das Heft im Zeitschriftenhandel erhältlich. Interessierte, die in Polen leben, können die Printausgabe des Magazins bestellen oder in digitaler Form lesen. Mehr Informationen finden Sie hier: https://abo.spiegel.de/de/c/spiegel-geschichte

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