Am 24. und 25. Juni ging mit der Übergabe dreier Kirchenglocken in Elbing (Elbląg), Frauenburg (Frombork) und Siegfriedswalde (Żegoty) eine Phase des Projekts „Friedensglocken für Europa“ der katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart zu Ende. Auf Initiative von Bischof Dr. Gebhard Fürst werden sogenannte Leihglocken, die in Kirchen seiner Diözese hängen, an ihre früheren Heimatkirchen zurückgegeben. Die Delegation um Bischof Fürst wurde dabei von Baden-Württembergs – aus dem Ermland stammenden – Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann begleitet.
Drei Glocken hatten in dieser Phase des Projekts „Friedensglocken für Europa“ das Glück, eine lange Reise durch die schwierige Geschichte Europas nach über 80 Jahren wieder dort beenden zu können, wo sie begonnen hatte: in den Kirchen, in denen sie ursprünglich hingen und zu Gebet und Messe läuteten. Dort, im ehemaligen Ost- und Westpreußen, wurden sie vom nationalsozialistischen Regime abgehängt und ins damalige Kernland des Deutschen Reiches verbracht, wo sie mit ihrem Metall die Kriegsmaschinerie versorgen sollten.
Ein kleiner Bruchteil …
Insgesamt waren es in den Jahren 1941 und 1942 mehr als 100.000 Glocken, die auf diese Weise eingesammelt wurden, darunter auch welche aus den bereits im Krieg besetzten Gebieten. Lediglich etwa 1.300 Exemplare haben auf dem Glockenfriedhof in Hamburg überlebt. Sie wurden von der in Norddeutschland zuständigen Verwaltung der britischen Besatzer entweder an die ursprünglichen Standorte zurückgegeben oder – das betraf Glocken, deren Kirchen inzwischen auf dem Gebiet von Staaten des Warschauer Pakts lagen und die daher nicht dorthin gebracht werden konnten – an Kirchen im deutschen Bundesgebiet verteilt, die nach dem Krieg Glocken benötigten.
Als im Jahr 2011 das Geläut des Rottenburger Doms St. Martin erneuert wurde, stellte man fest, dass eine der Glocken eindeutig aus Landsberg in Schlesien (Gorzów Śląski) stammte. Sie wurde im April 2011 dorthin zurückgebracht, wo man sie seit dem Zweiten Weltkrieg verloren glaubte. „Die gemeinsame Andacht und das erste Anschlagen zu den Fürbitten zeigte die emotionale Bedeutung für die Menschen“, erinnert sich Bischof Fürst. „Wir Fremden aus Rottenburg wurden als Freunde empfangen.“ Aus diesem Erlebnis der Völkerverständigung und des Friedens entstand das jetzige Projekt – und die Suche nach weiteren „Leihglocken“.
… mit großer Wirkung
Bischof Gebhard Fürst sandte seinen Glockensachverständigen Professor Hans Schnieders aus. Im ganzen Bistum fanden sich 67 Glocken, von denen etwa 80 Prozent noch in Betrieb waren. „Erkennen konnten wir diese Glocken meist dank noch vorhandener Dokumente von Herkunft und Weitergabe, oft aber auch an mit Kreide aufgemalten Nummern. Und natürlich bei älteren Exemplaren, auf denen der Glockengießer seinen Namen und den Ort des Gießens hinterlassen hat“, erklärte Professor Schnieders in Siegfriedswalde. Doch so ganz einfach sei eine Rückführung dann doch nicht, so der Experte: „Die Glocke hier hat zum Beispiel ein Gewicht von 450 Kilogramm und einen Durchmesser von 920 Millimetern. Da mussten wir bei den Schallbrettern am Kirchturm von St. Albertus Magnus in Oberesslingen zum Ausbau eine tragende Säule entfernen. Der Transport hier in Polen durch die Feuerwehr war auch diffizil.“
Sowohl die zurückgegebenen als auch die in Deutschland als Ersatz neu gegossenen Glocken werden zu Friedensglocken geweiht, wodurch der Name des Projekts „Friedensglocken für Europa“ entstand. Aus Oberesslingen waren zwei Gemeindemitglieder nach Siegfriedswalde mitgefahren, um zu sehen, wo eine ihrer bisherigen Glocken ihren neuen Platz findet – die andere war in Elbing an die Gemeinde in Straszewo bei Marienwerder (Kwidzyn) übergeben worden. Alle Mitglieder der Gemeinde in Siegfriedswalde wiederum waren nach der Sonntagsmesse in der Kirche geblieben, um mit den Gästen die nachfolgende Andacht und die Weihung der Glocke sowie der zweisprachigen Informationstafel erleben zu können
Von Polen? Nein – aus dem Ermland!
Auch einige Mitglieder der deutschen Minderheit in Ermland und Masuren waren an allen drei Stationen der Einladung gefolgt und freuten sich über die Bereicherung des kulturellen Erbes der Region. Etwas befremdet waren sie jedoch von der Berichterstattung über ihre Heimat in Polen und in Deutschland. „Da war von geraubten Glocken aus dem besetzten Polen und nach Deutschland verschlepptem Kulturgut die Rede“, so eine empörte Äußerung. „Das Ermland gehörte zum Deutschen Reich, die Glocken wurden auf gesetzliche Anweisung entfernt.“ Besonders irritierend war für sie der Hinweis, dass die Familie von Ministerpräsident Winfried Kretschmann aus dem polnischen Verwaltungsbezirk Ermland-Masuren stamme.
Frauenburg am Frischen Haff, die Heimat von Kretschmanns Eltern, war damals ebenso deutsch wie das Ermland, dessen religiöse Hauptstadt es lange war. Die Familie musste 1945 über das Frische Haff fliehen, weswegen Winfried Kretschmann die Gelegenheit wahrnahm und den dortigen Gedenkstein für die Toten des Haffs aufsuchte. Sein Besuch – auch bei der Weihung der Glocke in Frauenburg, die in die Nikolaikirche kommen wird, in der einer seiner Brüder getauft wurde – war ein glücklicher Zufall, so Norbert Block, der Vorsitzende der Ermlandfamilie, der Organisation der ehemaligen Einwohner des Ermlands: „Ich hatte von der Idee erfahren, diese drei Glocken hierher zu bringen. Auf dem Katholikentag in Stuttgart 2022 kam Herr Kretschmann als Ermländer bei uns am Stand vorbei. Ich erzählte ihm von dem Plan – und er fragte einfach nur: ‚Wann fahren wir?‘.“
Völkerverständigung im Kleinen
Für einen Besuch in Siegfriedswalde reichte die Zeit des Ministerpräsidenten leider nicht mehr. Die Delegation der Diözese Rottenburg-Stuttgart und ihre Gastgeber trafen sich nach dem offiziellen Teil bei einem Imbiss im Schulhaus des Ortes, die Oberesslinger suchten mit Dolmetschern und Hand und Fuß ersten Kontakt zu den neuen Besitzern ihrer alten Glocke, und der Schultheiß des Ortes sagte energisch zu, dass die Glocke bald hängen und nach dem ersten Ton bei der Andacht vor der Kirche viel häufiger läuten solle. In der Kirche selbst war bereits eine Sammelbox für Spenden für die notwendige Konstruktion aufgestellt.
Die für einige Gäste noch etwas ungewohnte ermländische Gastfreundschaft kommentierte der Feuerwehrhauptmann des Dorfes mit einem „Das gehört sich einfach so bei Freunden“, und Bischof Gebhard Fürst ließ es sich nicht nehmen, zu einem Lob und einem Dank für das Essen eigens die Küche aufzusuchen. Eine freundliche, friedliche und unkomplizierte Begegnung im Sinne der Völkerverständigung mit Zukunft.
Uwe Hahnkamp