Ende Januar 1945 floh der damals sechsjährige Heinz H. Bathelt mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester vor der anrückenden Roten Armee aus Schlesien ins Sudetenland. Nach dem Krieg wurde die Familie endgültig aus ihrer Heimat vertrieben und fand Zuflucht in Österreich. Die Erlebnisse der Flucht und Vertreibung haben Heinz H. Bathelt sein Leben lang beschäftigt. Nun hat sein Sohn Christoph Bathelt die Geschichte seines Vaters aufgeschrieben – in Form einer Graphic Novel.
Herr Bathelt, wovon handelt Ihr Buch „Die Heimat in der Schultasche“?
Das Buch erzählt die Erlebnisse meines Vaters während der letzten Monate des Zweiten Weltkrieges und der Zeit danach. Es rekapituliert seine Flucht beziehungsweise Vertreibung aus Oberschlesien durch das Sudetenland nach Österreich und basiert auf seinen Erinnerungen – die Erlebnisse werden also von ihm selbst geschildert. Denn obwohl mein Vater damals noch ein Kind war, hat er alles sehr aufmerksam beobachtet und war auch später, im Alter, noch in der Lage, seine Erfahrungen korrekt und detailliert wiederzugeben.
Vor drei Jahren, anlässlich des 75. Jahrestages des Kriegsendes, wurde mir von mehreren Seiten nahegelegt, die Erinnerungen meines Vaters als Zeitzeugenbericht zu veröffentlichen. Dies geschah zum Beispiel im „Karpatenblatt“ (Zeitschrift der deutschen Minderheit in der Slowakei, Anm. d. Red.) oder auch im „Wochenblatt.pl“. Allerdings finde ich es schade, dass solche Artikel meist nur einen kleinen Leserkreis erreichen und dann wieder in Vergessenheit geraten. Daher kam mir der Gedanke, etwas Dauerhaftes zu schaffen. So entstand die Idee für das Buch.
Warum haben Sie sich dazu entschieden, die Fluchtgeschichte Ihres Vaters in Form einer Graphic Novel, also in einer „ernsthafteren“ Form des Comics, zu erzählen?
Ich denke, dass eine Graphic Novel die ganze Thematik zugänglicher macht – vor allem für die junge Generation. Ein durchschnittlicher Schüler, der sich nicht oft mit geschichtlichen Themen beschäftigt und keine Lust hat, lange und komplizierte Texte zu lesen, findet in einer Graphic Novel eine niedrigschwellige Möglichkeit, sich dem Thema Flucht und Vertreibung anzunähern.
Die Illustrationen des Buchs stammen übrigens von der jungen slowakischen Grafikerin Klára Štefanovičová, mit der ich während des Entstehungsprozesses ausgesprochen eng und gut zusammengearbeitet habe, sodass ein optimales Ergebnis abgeliefert werden konnte. Mit dem Büchlein möchten wir einen Beitrag leisten zur Dokumentation und Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges – und zwar aus der Sicht eines Kindes.
Ihr Vater stammte aus Bielitz (Bielsko) in Oberschlesien. Wie verlief seine Flucht nach Österreich?
Als die Front des Zweiten Weltkrieges im Januar 1945 nur noch etwa 50 Kilometer von Bielitz entfernt war, ist er mit seiner Mutter und seiner Schwester Ursula – der Vater war als Soldat bei der Wehrmacht – zunächst nach Jägerndorf (Krnov, Anm. d. Red.) im Sudetenland geflohen. Dort sind sie bei Verwandten untergekommen. Nach ein paar Wochen ging es dann weiter in Richtung Westen, nach Mährisch Schönberg (Šumperk, Anm. d. Red.).
Als der Krieg schließlich endete, sind sie – getarnt als polnische Flüchtlinge – fürs Erste nach Bielitz zurückgekehrt. In ihrem Haus haben allerdings inzwischen Polen gewohnt; sie selbst haben als „Illegale“ in ihrer Heimatstadt gelebt. In dieser Zeit haben sie auch Gerüchte von den Zuständen im Lager Zgoda in Schwientochlowitz (Świętochłowice, Anm. d. Red.) gehört, die sie sehr beunruhigt haben.
Meine Großmutter hat schnell erkannt, dass es in Bielitz keine Zukunft mehr für sie und ihre Kinder gab. Sie hat deshalb Österreich ins Auge gefasst, denn in der Nähe von Linz an der Donau stand ein Haus in Familienbesitz.
Im Sommer 1945 hat sich mein Vater dann mit seiner Mutter, Schwester und den beiden Großmüttern per Zug und teilweise auch zu Fuß bis nach Österreich durchgeschlagen. Das vorläufige Ziel der Odyssee war Wien, denn dort lebte der Onkel meines Vaters. Er hat ihnen dann auch die Schlüssel für eben jenes Haus in Oberösterreich gegeben. Ob das Haus aber überhaupt noch stand oder zerbombt war, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand. Noch dazu lag es in der sowjetischen Besatzungszone.
Wie ging es dann weiter?
Die Familie ist noch einige Wochen im zerstörten und besetzten Wien geblieben, hauste in provisorischen Unterkünften und hatte nur wenig zu essen. Ihr gesamter Besitz war entweder in Bielitz geblieben oder während der Flucht von polnischen Milizen beschlagnahmt worden. Eigentlich gab es nur noch die rote Schultasche meines Vaters, die er zur Kriegsweihnacht 1944 geschenkt bekommen hatte.
Jedenfalls wussten die Fünf nicht, wie sie das Haus in Oberösterreich erreichen sollten; als nunmehr Staatenlose hatten sie keine gültigen Ausweise und die Grenzen der Besatzungszonen wurden ja streng bewacht.
Sie haben die Reise dann aber doch gewagt: In der Nähe der Zonengrenze im niederösterreichischen St. Valentin hat meine Großmutter einem Fischer etwas Geld gegeben, der sie im Gegenzug nachts über die Donau gebracht hat. Diese riskante Aktion hat geklappt; auf der anderen Seite der Donau, bei Mauthausen, wurden sie dann von einem Lkw flussaufwärts bis zu ihrem Zielort östlich von Linz mitgenommen.
Dort haben sie dann ihr Haus erreicht – das tatsächlich noch stand und intakt war. Allerdings waren dort zahlreiche fremde Menschen, wie zum Beispiel Ausgebombte, einquartiert. Die Familie konnte trotzdem ebenfalls dort einziehen und es wurde für die nächsten Jahre zur zweiten Heimat meines Vaters. An dieser Stelle endet dann auch die Graphic Novel. Der Vater meines Vaters, also mein Großvater, mit dem das Haus für den „Fall der Fälle“ als Treffpunkt vereinbart war, ist im Übrigen nicht mehr aus dem Krieg zurückgekehrt.
Ihr Vater ist im Oktober 2022 verstorben. Hat er mit Ihnen oft über seine Erlebnisse von damals gesprochen?
In der Tat hat er mir sein Leben lang davon erzählt. Im Grunde genommen war er ja beides: Flüchtling und Heimatvertriebener. Vor etwa zehn Jahren habe ich ihn gebeten, seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben, damit das Ganze auch für die Nachwelt erhalten bleibt. Nach langem Zögern hat er sich schließlich hingesetzt und alles niedergeschrieben – und zwar handschriftlich! Vier DIN-A4-Ordner hat er mit seinen Erinnerungen gefüllt.
Ich selbst hatte anfangs Hemmungen, die Aufzeichnungen zu lesen, weil sie mir als zu persönlich und intim erschienen. Aber als ich schließlich doch einen Blick hineingeworfen habe, hat mich mein Vater aufs Neue sehr beeindruckt. Zum einen ist es bemerkenswert, dass er trotz seiner schlimmen Erfahrungen und Enttäuschungen im Leben so ein anständiger und gütiger Mensch geblieben ist. Das Trauma der Flucht und die anschließende bedürftige Kindheit haben meinen Vater zwar geprägt, aber niemals verbittert. Er hatte niemals Hassgefühle gegen andere Menschen und hat nie ein schlechtes Wort über andere Völker verloren. Zum anderen konnte auch ich selbst dank der Lektüre der Erinnerungen endlich viele Ereignisse und Geschichten aus meinem eigenen Leben besser einordnen und die Hintergründe verstehen.
Ich betrachte das nun entstandene Buch deshalb als das Vermächtnis meines Vaters, als die Botschaft von Heinz H. Bathelt an uns Nachgeborene.
Herr Bathelt, vielen Dank für dieses Gespräch.
Mit Christoph Bathelt sprach Lucas Netter
Die Heimat in der Schultasche – Geschichte einer Flucht
Die Erlebnisse von Heinz H. Bathelt, geschildert von ihm selbst
Herausgeber: Christoph Bathelt
Illustrationen: Klára Štefanovičová
Erschienen 2023 im Neue Welt Verlag, Wien
Format: DIN-A4, 32 Seiten, farbig, Softcover
Sprache: Deutsch (eine Übersetzung ins Polnische und Slowakische ist vorbereitet, aber noch nicht gedruckt)
ISBN: 978-3-9505287-0-1
Preis: 19,90 Euro
Online kostenfrei als PDF verfügbar: https://neueweltverlag.at/wp-content/uploads/2023/04/die_heimat_in_der_schultasche_-1.pdf
Titelfoto: © Neue Welt Verlag